Sonntag, März 17, 2024

Reden wir über Zungenkrebs

Die an Zungenkrebs erkankte Salzburgerin Claudia Braunstein spricht im Interview über ihre Erkrankung und wie die Diagnose ihr Leben verändert hat.

Zungenkrebs, der vorwiegend ab der sechsten Lebensdekade auftritt, gehört in den Bereich der Mundhöhlenkarzinome. Diese liegen mit 6 Prozent der Krebserkrankungen damit an sechster Stelle der Häufigkeit aller Karzinome, wobei Männer doppelt so häufig betroffen sind wie Frauen.

Zu den Anfangsbeschwerden können Schmerzen, Mundgeruch und Sprechbehinderungen gehören. Gerade bei Tumorbildung in der Mundhöhle, die oft lange unentdeckt bleiben, gilt eine Früherkennung als enorm wichtig für den erfolgreichen Verlauf der anschließenden Therapie. Tabak und Alkoholmissbrauch gelten als Hauptrisikofaktoren, sind jedoch nicht zwingend ursächlich

Eine der Betroffenen ist Claudia Braunstein, der man auf den ersten Blick nicht ansieht, welche Rolle der Zungenkrebs in ihrer Vergangenheit gespielt hat:

Susannah Winter: Wie alt warst du, als du die ersten Symptome des Mundhöhlenkarzinoms bemerktest?  Welche Beschwerden zeigten sich? Hast du sofort an Zungenkrebs gedacht? Wie lange hat es gedauert, bis du einen Arzt aufgesucht hast?

Claudia Braunstein: Im Nachhinein gesehen zeigten sich die ersten Symptome im Frühjahr 2011, da war ich 48 Jahre alt. Ich hatte um die Osterzeit herum zwei goldene Inlays innerhalb einiger Tage verloren. Das war nicht wirklich tragisch, weil es keine Schmerzen verursachte. Allerdings biss ich mir mit den scharfen Zahnkanten mehrmals auf den hinteren Zungenrand. Das verursachte kleine weiße Stellen, wie man sie eben kennt, wenn man sich in die Zunge beißt. Ich hatte mir dann umgehend einen Zahnarzttermin vereinbart, um die Inlays wieder einsetzen zu lassen. Aus verschiedenen Gründen hat sich der Termin mehrmals verschoben. Einmal musste ich geschäftlich ins Ausland, ein anderes Mal erkrankte der Zahnarzt. Schließlich war es dann bereits die zweite Julihälfte, dass ich endlich zum Arzt kam. Die kleine weiße Stelle machte ja keine Probleme, ich habe sie mit einer Tinktur behandelt und mit Salbeitee gespült. Also gab es null Grund für eine Beunruhigung. Keine Schmerzen, keine Schluckbeschwerden. Einfach nichts, was auf etwas Ernstes hindeuten hätte können. Weshalb ich dann letztlich doch beim Arzt landete, war der Umstand, dass mir beim Fisch essen eine Gräte in die kleine Wunde rutschte und einen unbeschreiblichen Schmerz verursachte, der vom Kopf bis in die Zehenspitzen fuhr. Noch am gleichen Tag erhielt ich einen eingeschobenen Termin. Und wieder ging es mir nur darum, die Inlays einzusetzen, weil ich ja die scharfen Kanten als Verursacher für diese kleine weiße Stelle erachtete. An ein Karzinom oder einen Tumor hatte ich nicht eine Sekunde gedacht, zumal mir eine Krebserkrankung in diesem Bereich gar nicht in den Sinn kam.



 

Susannah Winter: Wann und durch wen gab es die erste Diagnose? Wie lange hast du auf Arzttermine warten müssen?

Claudia Braunstein: Mein Zahnarzt hat nur einen kurzen Blick in meinen Mund geworfen und meinte es wäre ihm lieber, ich würde auf die Mund-Kiefer-Chirurgie zur Abklärung weiterfahren. Er war vor seiner Praxistätigkeit dort als Facharzt tätig und informierte seine ehemaligen Kollegen, dass er eine Patientin zur Abklärung eines Ulcus vorbeischicken würde. Ich hatte sechs Jahre Latein in der Schule und habe ein umfassendes medizinisches Laienwissen und natürlich wusste ich sofort wovon er sprach. Wobei dieser Begriff nichts weiter als ein Geschwür beschreibt. Ich war dann 10 Minuten später in der Klinik und wurde bereits erwartet. Da hatte ich dann während der Untersuchung das erste Mal das Gefühl, das könnte etwas Gröberes sein, aber null Gedanken an eine Krebserkrankung. Wie erwähnt, Krebs im Mund hatte ich nicht am Radar. Binnen einer Woche waren alle Untersuchungen durchgeführt. Wobei ich erwähnen muss, dass eine sehr wichtige Untersuchung, das PET-CT eingeschoben werden konnte, weil eine Schulkollegin Oberärztin an dieser Abteilung ist und ein wenig interveniert hatte, zu meinem großen Glück, denn der Tumor hatte ein relativ großes Ausmaß und war hochgradig aggressiv und es war ein echter Wettlauf mit der Zeit. Nach 10 Tagen stand dann fest, dass ich ein Plattenepithelkarzinom am rechten Zungenrand habe, mit Lymphbefall am Hals. Diese Nachricht wurde mir vom Primar der MKG übermittelt. Das Ganze erfolgte in einem einstündigen Gespräch, das trotz dieser großen Tragik angenehm verlief. Ich war ziemlich klar in meiner Aufnahmefähigkeit und habe wirklich alles verstanden was mir mitgeteilt wurde. Ich habe perfekt informiert anschließend die Klinik verlassen und wurde knapp eine Woche später wiederbestellt. Solange, oder besser so kurz benötigte die Klinik um alles vorzubereiten. Der Auftrag an mich war, möglichst viel und kalorienreich zu essen, da ich sicher über längere Zeit in der Nahrungsaufnahme eingeschränkt sein würde. Es gab ein einziges Wort, dass ich während des Aufklärungsgespräches nicht verstand *Neck Dissection*. Und ich war aber zu feig oder zu stolz, ich kann es nicht mehr sagen, nach der Bedeutung zu fragen. Zuhause hat mir Google dann mitgeteilt, dass das der Fachausdruck für eine großräumige Halsöffnung für die Entfernung von Lymphknoten ist.

 

Susannah Winter: Wo genau befand sich der Tumor?

Claudia Braunstein: Der Tumor befand sich am hinteren rechten Zungenrand und ist in den Mundboden übergegangen.

 

Susannah Winter: Wie sah die Behandlung aus?

Claudia Braunstein: Drei Tage vor dem OP-Termin bin ich zur Vorbereitung in die Klinik eingerückt. Es wurde ein Zentralvenenkatheter im Schulterbereich gelegt. Einige Untersuchungen wurden noch gemacht und am 11.August begann mein zweites, sehr verändertes Leben, dessen Start sich als sehr schwierig erwies. In einer knapp 17-stündigen Operation wurde ein Viertel der beweglichen Zunge im hinteren Bereich entfernt und durch ein Implantat samt Vene aus dem Unterarm ersetzt. Das Implantat zeigte Abstoßungsreaktionen und man wollte schon aus dem anderen Unterarm ein weiteres Ersatzteil entnehmen und austauschen. Letztlich aktivierte sich aber das erste Implantat. Ferner wurde der ganze Hals geöffnet, damit 21 Lymphknoten entfernt werden konnten. Davon zeugt heute noch eine Narbe vom rechten Schlüsselbein hinter das rechte Ohr, verlaufend unter dem Kinn in einer Halsfalte bis hinter das linke Ohr. Damit ich selbständig atmen konnte wurde eine Tracheotomie durchgeführt. Das ist ein künstlicher Zugang zur Luftröhre durch den Hals.  Danach verbrachte ich zwei Tage auf der Intensivstation zur Überwachung und weitere zwei Tage auf der Aufwachstation. Vier Wochen blieb ich in der Klinik, wechselte nahtlos in eine Anschlussheilbehandlung in eine deutsche Spezialklinik. Dort blieb ich drei Wochen, um mich für die bevorstehende Chemo-Strahlentherapie vorzubereiten. Diese zog sich über 7 Wochen und vermutlich waren das die schlimmsten Tage meines Lebens. Ich habe 18 Kilo abgenommen und wog nur mehr 45 Kilo, war bettlägerig und pflegebedürftig. Ich konnte weder sprechen, noch essen oder trinken. Einer meiner behandelnden Oberärzte setzte dann ohne meine Einwilligung eine PEG-Magensonde durch. Ich bedanke mich heute noch jedes Mal bei ihm, denn diese Intervention hatte mir das Leben gerettet. Im Zuge diverser Nachuntersuchungen wurde dann auch noch ein beginnender Gebärmutterhalskrebs diagnostiziert, was zur Folge hatte, dass ich mich auch noch einem gynäkologischen Eingriff unterziehen musste. Bei dieser Gelegenheit wurden die PEG-Sondennarbe korrigiert und auch das Tracheostoma (anm.: eine operativ angelegte Öffnung der Luftröhre) vernäht. Damit es nicht langweilig wurde, habe ich mir einen MRSA-Keim (anm.: Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus, ein multiresistenter Keim) eingefangen. Das bedeutet dannab in die Klinik-Quarantäne. Und die Ausrottung eines solchen Keimes ist eine ziemlich aufwändige Angelegenheit.

 

Susannah Winter: Wie hat die Diagnose dein Leben verändert? Beschreibe dein Leben vor der Erkrankung (Familie, Job, soziales Umfeld), während der Erkrankung und heute.



Claudia Braunstein: Ich bin ja Mama von vier inzwischen erwachsenen Kindern und ewig lange verheiratet. Ich war vor meiner Erkrankung sehr lange in der Modebranche tätig und habe ein eigenes Unternehmen geführt. Das habe ich jedoch einige Zeit vor meiner Erkrankung geschlossen und habe danach als Geschäftsführerin für einen italienischen Konzern in Salzburg gearbeitet. Immer noch in der Modebranche, die mir lange Zeit viel Freude bereitet hat. Der Ausstieg aus der Selbständigkeit ist mir nicht leichtgefallen und das Angestelltenverhältnis war nicht wirklich mein Leben. Ich war zum Zeitpunkt der Diagnose arbeitslos, weil der Konzern meine Stelle abgebaut und mich durch eine halb so alte und halb so günstige junge Frau ersetzt hatte. Das bedeutet, dass ich mich zu dieser Zeit in einer schwierigen beruflichen Situation befand. Ich habe in dieser ganzen Zeit der Diagnose und anschließenden Therapie überhaupt keinen Gedanken an eine Arbeit verschwendet. Meine Mama war damals eine sehr treibende Kraft und hat dann alles für eine befristete Berufsunfähigkeitspension in die Wege geleitet. Diese wurde mir auch unkompliziert gewährt. Nach zweimaliger Verlängerung wurde diese Pension vorigen Herbst in eine unbefristete umgewandelt.

Meine Familie war und ist eine große Stütze. Ich glaube, meine Erkrankung hat unseren Familienverband noch mehr gestärkt. Dazu zähle ich nicht nur meine Kernfamilie mit Mann, Kindern, Schwiegerkindern und inzwischen auch Enkelkind, sondern auch meine Eltern, meine Schwester und ihren Mann und ebenso meine Cousine samt Gatten, mit der ich aufgewachsen bin. Ich weiß, dass ganz besonders mein Mann und auch die Kinder sehr unter meiner Erkrankung gelitten haben. Die Situation war oft auch nicht einfach, weil keiner genau wusste, wie das alles ausgehen würde. Ich hätte auch pflegebedürftig bleiben können. Ich erinnere mich noch genau, wie oft ich von meinen Kindern hörte: „Mama, wir brauchen dich doch noch.“ Das war für mich wie eine Aufgabe, die ich zu erfüllen habe und hat mir großen Ansporn gegeben.

Zur Zeit nach der Diagnose: Ich war sehr mit den Vorbereitungen zur Operation beschäftigt. Es wundert mich heute noch, dass ich keinerlei Angst verspürte. Ich hatte kurz im Internet zum doch eher unbekannten Thema Zungenkrebs nachgelesen, aber sofort wieder aufgehört, weil es mich sehr verstörte. Es gab einen Tag an dem ich versucht habe, mit mir ins Reine zu kommen. Ich hatte ein Resümee über mein Leben gezogen, das mir sehr viele Höhen und einigeTiefen beschert hat. Wobei ich betonen muss, dass die Höhen wesentlich mehr Platz einnahmen, als die Tiefen, die dafür besonders tief waren. Ich habe auch darüber nachgedacht, ob ich bei einem möglichen Tod irgendetwas Großartiges versäumt hätte und kam zu dem Schluss, dass dieser zwar vermutlich für meine Familie ziemlich traurig wäre, ich persönlich aber ein sehr erfülltes Leben gehabt habe, obwohl ich erst 48 war. Ich muss dazu sagen, dass ich lange Zeit über große Geldmittel verfügt habe, die mir ein äußerst angenehmes, interessantes Leben ermöglichten. Ich hatte einen sehr spannenden Beruf, eine große, wunderbare Familie, Unmengen an Freunden, ich reiste sehr viel, konnte mir materiell überdurchschnittlich viel leisten. Das Einzige was mir bei einem möglichen Ableben tatsächlich gefehlt und was ich zutiefst bedauert hätte, war ein Enkelkind und ich wollte so gerne zumindest auf eine Hochzeit eines meiner Kinder gehen. Beides hat sich inzwischen erfüllt. Angst hatte ich jedoch zu dieser Zeit keine, auch danach nie, selbst bei diesem unerwarteten Rezidiv-Verdacht (anm.: Verdacht auf erneute Tumorbildung) vor bald zwei Jahren. Ich kann nicht sagen, woher dieser unglaubliche Mut kam. Er war einfach da, und ich bin auch heute noch unfassbar dankbar dafür, dass ich offenbar so ein Naturell vorweisen kann.

 

Susannah Winter: Die Wissenschaft äußert immer wieder klar, dass es keine klar definierten Ursachen für Krebs gibt. Nur Dinge, die das Risiko für eine Erkrankung erhöhen. (Genetische Prädisposition, Rauchen, vermehrter Alkoholkonsum etc.) Viele Menschen hören nach einer Erkrankung mit dem Rauchen auf, leben bewusster, gesünder, in der Hoffnung, vorsorgen zu können. Gab es einen Moment der „Schuldsuche“ und wie siehst du das heute?

Claudia Braunstein: Nein, bis heute habe ich nie versucht irgendeine Schuld bei mir zu suchen, aus einem ganz einfachen simplen Grund: Es würde meine Situation nicht verändern. Ich kann nur daraus lernen. Das habe ich auch gemacht. Ich rauche nicht mehr. Ich lebe vermutlich wesentlich gesünder und bewusster als vor der Erkrankung. Mein Essverhalten hat sich natürlich allein wegen der massiven Einschränkungen sehr verändert. Außerdem trinke ich null Alkohol, weil ich das bei einer bestrahlten Mundhöhle für wirklich gefährlich halte. Auch wenn man oft hört: „Ab und zu ein Glaserl schadet nicht.“ Allerdings weiß ich bestens um die Risikofaktoren Bescheid und ich versuche so oft wie möglich, darauf aufmerksam zu machen. Mir hilft es nicht mehr, aber anderen womöglich.

 

Susannah Winter: Welche positiven oder negativen Erfahrungen hast du mit Ärzten, Krankenhäusern, Medikation, Behandlung gemacht?

Claudia Braunstein: Mein sehr großes Glück war, dass zum Zeitpunkt meiner Erkrankung ein neuer Abteilungsleiter an die MKG in Salzburg kam, der zufälligerweise ein europaweit anerkannter Tumorspezialist ist. Er leitet im Normalfall alle großen Tumoroperationen, die im Haus anfallen. Die MKG hier ist eine relativ kleine Abteilung, so, dass für Langzeitpatienten ein fast familiäres Gefühl aufkommt. Ich habe mich bei meinen unzähligen Aufenthalten dort immer sehr behütet und beschützt gefühlt. Auch auf den anderen Abteilungen, wie etwa der Onkologie, auf der ich ja auch einige Wochen verbrachte, besonders schwere noch dazu, wurde ich sehr liebevoll betreut. Einzig die Zeit auf Quarantäne, an die erinnere ich mich wirklich sehr ungern, weil das teils menschenunwürdig war. Medikamentös war ich was Schmerzen anbelangt wunderbar eingestellt. Dass ich auch Psychopharmaka erhielt, habe ich nur durch Zufall festgestellt. Und das war gut so, denn hätte man mich zu diesem Thema befragt, hätte ich natürlich abgelehnt. So wusste ich nichts davon und war immer bestens aufgelegt. Eine kluge Entscheidung der behandelnden Ärzte. Ich hatte auch eine Chemotherapie mit Cispalatin, das ja als besonders giftig gilt. Es hat nicht nur eventuellen Tumorresten den Garaus gemacht, sondern auch bis heute andauernde Langzeitschäden verursacht. Von denen ist nicht sicher, ob sie jemals gänzlich verschwinden. Dazu zählt auch mein Chemobrain, das manchmal für große Vergesslichkeit sorgt. Bei Wetterwechsel macht sich gerne meine Polyneuropathie (anm.: ist der Oberbegriff für bestimmte Erkrankungen des peripheren Nervensystems, die mehrere Nerven betreffen. Abhängig von der jeweiligen Ursache können motorische, sensible oder auch vegetative Nerven gemeinsam oder auch schwerpunktmäßig betroffen sein. ) in den Händen und Füssen bemerkbar. Ja, da komm ich gut durch, weil ich weiß, dass es wieder vorbeigeht. Schwerhörigkeit auf einem Ohr muss nicht nur negativ sein. Manchmal ist es kein Schaden nicht alles zu hören. Ansonsten habe ich keine sehr negative Erinnerung an die Chemotherapie, obwohl es mir da wirklich sehr schlecht ging. So schlecht, dass sogar ein Zyklus verschoben werden musste, weil die Blutwerte unter jeder Kritik waren. Aber vermutlich haben die Nebenwirkungen der fürchterlichen Strahlentherapie alles übertüncht. Das war wirklich die schrecklichste Zeit meines Lebens. Ich kann diese Tortur gar nicht in kurze Worte fassen. Selbst heute, nach bald fünf Jahren, läuft es mir da kalt über den Rücken, wenn ich versuche mich in meine damalige Situation zu versetzen. Wenn ich mit anderen Patienten darüber spreche, habe ich glücklicherweise einen professionellen Zugang, so dass es mich meine damaligen Erlebnisse nicht wirklich berühren.

 

Susannah Winter: Wie sehen die Prognosen für ein erneutes Auftreten des Krebs‘ aus? Wie die Nachsorge bei Zungenkrebs?

Claudia Braunstein: Im Sommer läuft die berühmte 5 Jahresfrist aus. Das ist der Zeitpunkt, an dem man als geheilt gilt, wenn man bis dahin tumorfrei geblieben ist. Ich hatte vor wenigen Tagen eine große Nachsorgeuntersuchung mit CT und MRI, und meine begleitende Onkologin meinte, sie würde sich auch jetzt schon, einige Monate vor dem Ablauf der 5 Jahresfrist, trauen, das Wort geheilt zu verwenden. Das ist irgendwie schon ein sehr gutes Gefühl, obwohl ich natürlich weiß, dass gerade Plattenepithelkarzinome relativ rezidivanfällig sind. Ich habe seit meiner Erkrankung eine große Gelassenheit entwickelt, darum macht mich dieses Wissen nicht nervös und beeinträchtigt mich auch nicht im Alltag. Auf Grund der hohen Rezidivrate und meines jungen Alters für diese Tumorart bleibe ich in einer sehr engmaschigen Nachsorge. Es wird zumindest die kommenden zwei, drei Jahre noch bildgebende Untersuchungen geben. Die Sichtkontrolle durch Fachärzte erfolgt weiterhin alle drei Monate. Da fühle ich mich wirklich gut aufgehoben.

 

Susannah Winter: So gut wie alle Erkrankungen haben Begleiterkrankungen und sekundäre Symptome.  Im Fall von Krebs, speziell dem Mundhöhlenkarzinom, z.b. psychische Erkrankungen wie Depressionen, aber vor allem auch physische Begleitfolgen.  Welche Einschränkungen sind geblieben in den Bereichen Essen, Sprechen, Schmerzen?

Claudia Braunstein: Ich hatte und habe das unfassbar große Glück in meiner ganzen Krankheitsgeschichte, bis auf einen einzigen Tag keinerlei psychische Probleme gehabt zu haben. Dieser einzige Tag, war jener, als ich mich zum ersten Mal nicht nur auf einem kleinen Selfie sah, sondern im Badezimmerspiegel in der Klinik. Mir sind Äußerlichkeiten sehr wichtig, so auch mein Aussehen und der Anblick war ein echter Schock. Wenige Minuten später kam die tägliche Visite und der Abteilungschef bemerkte sofort meinen Zustand und informierte umgehend eine Psychologin. Da ich nicht sprechen konnte, teilte ich meinen Schmerz schriftlich mit. Das klingt jetzt so einfach, aber allein das half mir ungemein. Ich habe auch nie mit dieser ganzen Krankheitssituation gehadert. Meine physischen Einschränkungen sind jedoch massiv, auch wenn man das auf den ersten Augenblick nicht wahrnimmt. Viele meiner Behinderungen sind für andere auch gar nicht wahrnehmbar, deshalb sind auch die meisten Menschen sehr überrascht, wenn sie erfahren, dass ich tatsächlich einen Behinderungsgrad von 100% in meinem Ausweis stehen habe. Viele denken eben bei Behinderung eher an Rollstuhlfahrer oder geistige Einschränkungen. Ich leide an einer schweren Dysphagie, das bedeutet, dass ich auf Grund der geringen Kieferöffnung nicht richtig kauen kann und vor allem bin ich im Schluckakt sehr eingeengt. Durch die verkürzte Zunge, kann ich Essen nicht richtig zum Rachen schieben. Das heißt, ich sauge die Speisen Richtung Speiseröhre. Man braucht nur als Selbstversuch seine Zunge fest auf den Mundboden zu drücken und versuchen zu schlucken. Ungefähr so ähnlich wäre das zu beschreiben. Ich muss leider auf viele Speisen und auch Lebensmittel verzichten. Dazu gehören Nudeln, Reis, Salate, rohes Gemüse und vielfach auch Obst. Viel Lebensmittel kann man einfach nicht im pürierten Zustand essen. Also, ich finde Nudelbrei nicht wirklich schmackhaft. Ich kann auch nur kleine Mengen zu mir nehmen und benötige sehr viel Zeit dafür. Es war ja auch lange Zeit nicht sicher, ob ich jemals ohne PEG-Sonde leben werde können. An manchen Tagen kann ich auch tatsächlich nur Dickflüssiges zu mir nehmen, da ich nach wie vor oft verschleimt bin. Was das Sprechen anbelangt bin ich sehr gut konditioniert. G und K kann ich zwar nicht wirklich, oder nur mit sehr großer Anstrengung aussprechen. Auch heute passiert es mir, dass meine Gesprächspartner mich nicht gut verstehen, das hängt auch mit meiner Tagesverfassung ab. Ein großes Problem stellt für mich dar, dass in unserer Gesellschaft, Sprechbehinderung sehr gerne mit einer geistigen Einschränkung verbunden wird, und das Verhalten mancher Menschen, dann sehr befremdlich wird. Ich habe mir angewöhnt, gleich zu Beginn eines Gespräches auf die Ursachen meiner Behinderung hinzuweisen, das hilft meinem Gegenüber sehr. Schmerzen habe ich keine, ich lebe nur mit einem Gefühl der ständigen Enge im und um den Hals, als würde ich ein Halskorsett tragen. Das wird an feuchten, kalten Tagen manchmal unerträglich. Auch schnelle Wetterumschwünge machen mir sehr zu schaffen. Wie erwähnt, Polyneuropathien, Schwerhörigkeit auf einem Ohr, Chemobrain, Schilddrüsenunterfunktion um nur einige Unanehmlichkeiten zu erwähnen, sind meine ständigen Begleiter, aber damit habe ich mich sehr gut arrangiert. Ich habe auch eine sehr starke Speichelbildung, was nach Kopfbestrahlungen eher selten ist, die meisten Patienten beklagen zu wenig bis gar keinen Speichel. Ich sehe die Überproduktion als Vorteil, bis auf den Umstand, dass ich manchmal eine sehr feuchte Aussprache habe und mich auch gerne ansabbere. Das passiert mir vor allem wenn ich unkonzentriert oder aufgeregt bin.

 

Susannah Winter: Welche Auswirkungen hat/hatte die Erkrankung auf deine Arbeitsfähigkeit, auf Arbeitschancen, auf soziales Miteinander?

Claudia Braunstein: Ich bin seit meiner Erkrankung in Berufsunfähigkeitspension und das ist gut so, denn ich wäre nicht mehr in ein normales Berufsleben eingliederbar. Alleine mein zeitlicher Aufwand für die Nahrungsaufnahme verhindert das. Ich habe aber für mich eine vollkommen neue Alltagsstruktur geschaffen. Mehr durch Zufall habe ich vor vier Jahren einen Rezeptblog gestartet. Ich erarbeite Rezepte für Menschen mit Kau- und Schluckstörungen. Dass sich daraus ein kleines Unternehmen entwickeln würde, hatte ich weder geplant, noch erwartet. Es hat sich durch viel Zufälle einfach so ergeben. Mein Blog Geschmeidige Köstlichkeiten ist heute ein fixer Bestandteil in der deutschsprachigen Foodbloggerszene und ich habe gerade im vergangenen Jahr die Bekanntheit steigern können, weil ich bei drei Veranstaltungen Preise gewonnen habe, darunter den Jurypreis beim Food Blog Award. Das ist wie ein Ehren-Oscar für das Lebenswerk. So hat es sich zumindest angefühlt. Heute erhalte ich genügend Kooperationsanfragen, so, dass ich zu meiner Pension, im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten ein nettes Taschengeld verdienen kann. Ich bin dadurch auch viel auf Reisen, das macht mir nicht nur große Freude, sondern bringt auch eine gewisse Normalität in meinen Alltag, denn Reisen gehörten zu meinem früheren Berufsleben. Mein soziales Leben hat sich sehr verändert. Viele meiner früheren Freunde sind abhandengekommen. Dafür habe ich durch meinen Blog und auch durch meine ehrenamtlichen Tätigkeiten ein vollkommen neues Umfeld.

 

Susannah Winter: Warst/Bist du via Internet oder sogar persönlich mit anderen Betroffenen vernetzt und hilft dir dieser Austausch, nimmt er eine besondere Stellung in deinem Leben ein?

Claudia Braunstein: Ich bin vor allem real mit sehr vielen Betroffenen vernetzt, weil ich 2012 eine Selbsthilfegruppe für Mundhöhlenkrebspatienten gegründet habe. In diesem Rahmen begleite ich auch Neupatienten in der Akutphase. Viele dieser Menschen sind auch lange nach den Therapien in meinem Bekanntenkreis geblieben. Ich habe auch eine Ausbildung als Psychoonkologin absolviert, um im Rahmen der Betroffenenbegleitungen professionell agieren zu können. Natürlich ist dies eine Win-Win -Situation. Ich hatte ja die Selbsthilfegruppe vor allem deshalb gegründet, weil ich damals unbedingt Leute treffen wollte, die mir ihre Erfahrungen erzählen könnten. Ich bin schon lange auf der Geberseite, aber es macht einfach sehr glücklich, durch das angesammelte Wissen und die eigene Erfahrung anderen zu helfen. Via Internet bin ich über einige Foren mit anderen Betroffenen verbunden.

 



Susannah Winter: Bist du im Verlauf deiner Erkrankung von Familie, Freunden, Fremden, Ämtern, Ärzten diskriminiert oder nicht ernst genommen worden? Gab es Schwierigkeiten hinsichtlich der Finanzierung von Medikamenten? Der Bewilligung von Kuren oder Therapien? Gerade in deinem Falle: Gibt es jetzt diskriminierende Erlebnisse hinsichtlich deiner Bedürfnislage, barrierefrei essen zu können?  Welchen Handlungsbedarf siehst du? Welche Neuerungen/Änderungen wären nötig, um Menschen in derselben Lage mehr Inklusion und mehr Freiheit zu ermöglichen?

Claudia Braunstein: Ich bin weder von meiner Familie, noch von Ärzten oder sonstigem medizinischem Personal diskriminiert worden. Ein großer Teil meines Freundeskreises hat sich ziemlich grußlos verabschiedet. Darunter habe ich lange Zeit sehr gelitten. Solange ich nicht offen mit meinen Behinderungen umgegangen bin, hatte ich oftmals sehr eigenartige Begegnungen mit Fremden, die mir das Gefühl vermittelten, dass ich geistig behindert wäre. Aber das habe ich sehr schnell geändert. Mein Tipp ist wirklich, offen zu sein, man erspart sich so manche Erniedrigung. Über die Behandlung durch öffentliche Stellen könnte ich ein Buch schreiben. Allen voran die Krankenkasse. Zu 95% kompetentes, zuvorkommendes Personal und der Rest menschlich einfach untragbar. Solche Leute sollten nicht im Frontbereich tätig sein. Ich habe mich einige Male wirklich beschwert, nicht so sehr wegen mir, sondern wegen nachfolgender Klienten. Es geht einfach nicht an, jemanden am Telefon zu sagen, er solle nicht mit vollem Mund sprechen, ohne zu wissen, weshalb der Anrufer so schwer verständlich ist. Was Therapien, Reha und derartige anbelangt, kann ich nichts Negatives berichten, weil diesbezüglich meine Wünsche immer bestens erfüllt wurden. Jetzt steht gerade hoffentlich das Ende meiner langwierigen Zahnsanierung im Unterkiefer an. Es wird sich zeigen, wie kulant hier die Kasse agieren wird. Langwierig hat sich mein Weg in eine unbefristete Pension dargestellt. Erst seit letzten Dezember wurde die Befristung aufgehoben. Es war sehr belastend, nicht zu wissen, ob die Pension bestehen bleibt oder ob ich den Anspruch doch wieder verliere. Das hätte für mich fatale Folgen gehabt, ich bin seit über vier Jahren nicht mehr vollwertig berufstätig, bin 53 Jahre alt und bin zu 100% behindert. Die Chancen auf den Wiedereinstieg in einen Fulltime-Job am ersten Arbeitsmarkt sind gleich null. Aber das hat sich ja jetzt erledigt.

Bezüglich meiner schwierigen Ernährungsform könnte ich viele Geschichten erzählen. Auch wenn Dysphagie wesentlich verbreiteter ist, als man annehmen möchte, so wenig wird diese Einschränkung im öffentlichen Raum wahrgenommen. Mit Kau- und/oder Schluckstörungen verbindet man oft hochbetagte, bettlägerige Menschen, also solche, die nicht mehr sichtbar sind. Das bedeutet, dass es in Ess-Lokalen oft ein wahrer Spießrutenlauf ist, um etwas halbwegs Vernünftiges auf den Teller zu bekommen. Es ist mir auch schon passiert, dass ich Gaststätten hungrig und vor allem zornig verlassen habe, weil man null bereit war mir irgendetwas anzubieten, dass meinen Bedürfnissen entgegengekommen wäre. Hier wäre es einfach sehr wichtig viel mehr Aufmerksamkeit für diese Problematik zu schaffen. Wir werden immer älter, und somit werden diese Störungen immer mehr Menschen treffen. Man muss nicht unbedingt eine derartig schwere Krankheit hinter sich haben, es reicht oft eine schlecht sitzende Zahnprothese oder schlicht ein hohes Alter um mit solchen Beschwerden in verschiedenen Ausmaßen zu kämpfen. Ich würde mir wünschen, dass gerade im Gastronomiebereich mehr geeignete Speisen zu finden wären, ohne dass man schon bei der Reservierung seine Bedürfnisse ankündigen muss. Vor Ort fällt es vielen Betroffenen noch schwerer ihre Belange offen auszusprechen. Was ich durchaus verstehe, weil es wirklich nicht angenehm ist, dem Servicepersonal seine Lage genau zu erklären. Manche Menschen können nämlich überhaupt nicht nachvollziehen, was Dysphagie überhaupt bedeutet. Sehr schwierig sind oftmals auch weiterer Reisen. Die muss ich immer besonders sorgfältig planen. Weil ich eben nicht einfach in ein Lokal gehen kann, so wie andere Gäste. Ich war jetzt auf Einladung in Singapur. Wäre diese Reise nicht durch den Veranstalter für mich durchgeplant worden, wäre es manchmal ziemlich abenteuerlich geworden. Es ist mitunter auch sehr schwierig, einfach Fertigprodukte zu essen. Fast jeder von uns bestellt sich einmal Pizza, beim Chinesen oder isst ein Fertiggericht aus der Mikrowelle. Erst vor kurzem bin ich tatsächlich auf einen großen deutschen Lebensmittelhersteller getroffen, der sich diesem Thema widmet und mit dem ich jetzt auch eine Kooperation in beratender Tätigkeit aus Betroffenensicht, eingegangen bin.

 

Susannah Winter: Mir begegnen immer wieder Menschen, die in Sachen Krebs mit dubiosen Heilsversprechen aufwarten. So z.b. Aprikosenkerne gegen Krebs, nachweislich wirkungslos.  Oder Aloe Vera und ausschließliche Behandlung mit Homöopathie. Wie stehst du dazu? (Persönlich: Allein in meinem Bekanntenkreis sind drei Menschen, die ohne Chemo nicht mehr am Leben wären). Was rätst du Menschen, die vielleicht Angst vor Chemo/Skalpell haben?

Claudia Braunstein: Auch ich treffe manchmal auf Patienten, die der klassischen Medizin nicht wirklich vertrauen. Oder sich von ihr nicht gut betreut fühlen. Oder überhaupt jegliche klassische, medizinische Intervention ablehnen. Ich bin zutiefst überzeugt, dass ich ohne Operation und darauffolgender Chemo/Strahlentherapie nicht überlebt hätte. Ich lehne Alternativ-Medizin nicht generell ab, sofern sie begleitend angewendet wird. Gegen nicht belegbare Maßnahmen, die nachweislich auch noch Schäden anrichten verwehre ich mich vehement. Mein Mann hat mich knapp nach den Therapien mit einem Energetiker bekannt gemacht. Ich halte da sehr wenig davon. Der gute Mann hat mich dreimal wegen meiner schweren Verschleimung behandelt. Sprich er hat seine Hände auf meinem Rücken verweilen lassen. Was soll ich sagen, mein Zustand hatte sich gebessert. Ich habe null Erklärung dafür und vermute heute noch, dass es der natürliche Heilungsprozess war, der nach einer Bestrahlung eintritt. Jemand, der daran glaubt, wird die Verbesserung mit Sicherheit den Kräften dieses Herren zuschreiben. Zumindest hat es nicht geschadet. Ich rate eigentlich keinem Patienten zu irgendwelchen Maßnahmen, da ich ja keine Medizinerin bin. Ich versuche in gewissem Rahmen als Vorbild zu fungieren. Diese Funktion wird mir auch von vielen Seiten bestätigt.

 

Susannah Winter: Was würdest du dir von Ärzten und der Gesellschaft aber auch der Politik, von Familienmitgliedern, Freunden, Fremden im Umgang mit Deiner Erkrankung wünschen?

Claudia Braunstein: Heute, beinahe fünf Jahre nach meiner Diagnose lebe ich schon seit langem in einem neuen Alltag. Ich habe keine gesonderten Ansprüche, außer beim Essen. Ich glaube auch, dass es vielen Patienten sehr wichtig ist, wieder in eine Normalität zurückzukehren. Was ich mir manchmal wünsche ist, dass ich Fremden gegenüber meine Sprechbehinderung nicht erläutern müsste, um ein normales Gespräch führen zu können. Ich denke, jeder der außerhalb der Norm lebt, hat den Wunsch nach Inklusion und vollkommen normaler Behandlung im Alltag. Ganz selten, aber doch, habe ich an Tagen, an denen es mir einfach nicht so gut geht, das Bedürfnis auf Rücksichtnahme, weil mein Umfeld einfach vergisst, was ja auch sehr gut ist, dass ich eben doch schwer behindert bin.

 

Susannah Winter: Wie hoch würdest du deine vormalige und jetzige Lebensqualität und –Möglichkeiten selber einschätzen? Und was würde zu mehr Lebensqualität beitragen, wenn du dir etwas wünschen könntest?

Claudia Braunstein: Ich versuche so gut wie möglich keine Vergleiche zu ziehen. Ich kann ja mein ehemaliges Leben nicht zurückholen, ich kann nur aus dem jetzigen das Optimum herausholen und ich denke, das gelingt mir sehr gut. Die Esseinschränkung habe ich ja mehrfach erwähnt, die mindert natürlich meine Lebensqualität schon sehr. Sie würde sich aber auch nicht verbessern, wenn ich mich ständig darüber beklagen würde. Einen Nachteil gibt es sicher, den viele Menschen beklagen, die mitten aus dem Berufsleben gerissen wurden, das ist der große finanzielle Einschnitt, den eine Berufsunfähigkeitspension mit sich bringt. Ich sehe es jedoch schon auch so, dass ich dankbar bin, dass ich überhaupt abgesichert bin. Das halte ich nämlich nicht für so selbstverständlich, wir sind da in Europa, speziell in Österreich sehr privilegiert.

Susannah Winter: Niemand kennt dich besser als du selbst. Was tust du für dich, um dich besser zu fühlen? Was hilft? Was schadet?

Claudia Braunstein: Das kann ich mit drei Worten erklären. Ich gehe spazieren. Nein im Ernst, rausgehen, Menschen beobachten, Natur genießen, das sind für mich Faktoren die mir gut helfen, wenn es einmal nicht so läuft. Und ich gehe essen. Das macht mir immer noch sehr viel Freude und hat eine hohe soziale Kompetenz. Ich habe eine großartige Familie, das schätze ich ungemein und ist auch eine große Ressource. Ich muss auch sagen, dass meine weniger guten Phasen sehr minimal sind.

 

Susannah Winter:  Was wird in Artikeln über Mundhöhlenkarzinome normalerweise außen vorgelassen oder findet keine Erwähnung, was du unbedingt würdest lesen wollen und bisher vermisst hast oder was andere unbedingt lesen sollten?

Claudia Braunstein: Mir fehlt immer noch sehr, dass HPV high risk, der Virus, der vor allem für Gebärmutterhalskrebs verantwortlich ist und mittlerweile auch als Verursacher für Plattenepithelkarzinome in der Mundhöhle bekannt ist, kaum öffentlich Beachtung findet. Selbst in Fachkreisen wird zu wenig darüber gesprochen. Generell nimmt Mundkrebs nach wie vor eine große Außenseiterrolle in der Medizin ein. Immer noch wird der klassische Mundhöhlenkrebspatient als älterer, rauchender Alkoholiker dargestellt. Das Bild sollte sich ändern, auch in Publikationen.

 

Susannah Winter:  Was mir bei allen Erkrankungen bisher begegnet, egal ob nun physischer oder psychischer Natur, ist die Notwendigkeit, einen konstruktiven Umgang damit zu finden. Bei vielen Erkrankten beginnt mit der Erkrankung ein „Transformationsprozess“. Sie schreiben, malen, singen, schauspielern etc. um ein Ventil zu finden, Anspannungen und Ängste, die aus der Krankheitserfahrung stammen umzuleiten. Es gibt auch negative „Transformationen“, die ein Problem nur verschieben. Also eine Überspannung von einem Bereich in den nächsten schieben. (Z.b. autoaggressives Verhalten und Selbstverletzung.) Bei dir ist dieser konstruktive Umgang mit der Erkrankung ja sehr eindrucksvoll zu beobachten. Anstelle von Rückzug hast du die Öffentlichkeit gewählt, das Schreiben. Und die Essensdefizite hast du in Form von Rezeptgestaltung und Eigeninitiative wunderbar kompensiert. An dieser Stelle von mir liebe Glückwünsche dazu. Ich bewundere das wirklich sehr.  Magst du noch ein wenig von deinen Projekten, Seiten, Unternehmungen berichten? Und da du ja erfolgreiche Food-Bloggerin bist: Hast du ein Lieblingsgericht?

Claudia Braunstein: Das Schreiben kam letztlich über meinen Blog, der als simple einfache Rezeptsammlung mit Gerichten für meine Bedürfnisse, begann. Den hatte ich wiederrum begonnen, weil die Ehefrau eines anderen Betroffenen mich nach einem Kochbuch zum Thema fragte. Ein solches gab es damals nicht, voriges Jahr kam ein kleines Kochbuch auf den Markt und mein eigenes Buchprojekt, das ich mit zwei renommierten Wiener Ärzten plane, spießt sich seit fast zwei Jahren an den Verlagen mit denen wir bisher in Kontakt waren. Bis jetzt hat sich keiner über das Thema getraut, weil man meint, es gäbe zu wenig Leser. Das stimmt mich als Betroffene eher traurig, weil das ein absoluter Trugschluss ist. Menschen mit Dysphagie werden überhaupt nicht wahrgenommen.  Rund 20% der Bevölkerung leiden zumindest über einen längeren Zeitraum an Kau- und/oder Schluckstörungen. Man spricht nur nicht darüber. Aber ich bin mir sicher, auch das wird sich in Wohlgefallen auflösen. So habe ich dann ein Jahr nach meiner Erkrankung die Geschmeidigen Köstlichkeiten gestartet. Heute, vier Jahre später kann ich auf wirklich große Erfolge zurückblicken. Auch wenn meine Seite keine große Reichweite aufweist, so erhalte ich viel Aufmerksamkeit. Letztes Jahr habe ich zum Beispiel einen Jurysonderpreis beim Food Blog Award für meine besonderen Verdienste erhalten. Das hatte zur Folge, dass ich nicht nur nach Singapur reisen durfte, sondern, dass ich mittlerweile einige schöne Kooperationen erreicht habe. Darunter mit einem großen deutschen Lebensmittelkonzern, der eine Fertigproduktserie mit passierter Kost auf den Markt gebracht hat und nun damit richtig durchstarten möchte. Ich bin dort nun als freie Beraterin mit an Bord. Das macht nicht nur sehr viel Freude, sondern es bringt mir sehr viel Anerkennung für meine bisherige Tätigkeit. Man nimmt dort meine Betroffenensicht sehr ernst.

Über das Bloggen bin ich dann letztendlich auch bei Fisch und Fleisch gelandet. Dort schreibe ich seit beinahe dem ersten Tag über meine Krebsgeschichte und auch über Begebenheiten aus meinem Leben. Manchmal gibt es ein Rezept oder einen Reisebericht. Denn inzwischen betreibe ich auch einen zweiten Blog. Claudiaontour erzählt meine persönlichen Geschichten von unterwegs. Restaurantbeschreibungen, Hotelbesuche, meine Salzburger Kaffeehäuser. Die Seite richtet sich eher an ein Publikum in meinem Alter, also, guterhaltene 50+ LeserInnen. Ich überlege hier auch, eventuell noch mehr Lifestyle anzubieten. Das Schöne an diesem Blog ist, dass ich tatsächlich viele Einladungen erhalte. Ich komme ja aus der Modebranche. Und bis jetzt habe ich im deutschsprachigen Raum noch keinen Fashion Blog für 50+ gefunden, der mich persönlich total anspricht. Die wenigen, die ich bisher gesehen habe sind mir zu madamig oder sprechen eher Frauen mit größeren Größen an. Ja, vielleicht kommt irgendwann eine Rubrik Fashion dazu. Technisch ist das insofern eine Herausforderung, weil ich jemanden benötige, der fotografiert. Mal schauen. Meine Schreiberei, dort und da, ist für mich meine Tagesstruktur und ich kann dadurch auch zusätzlich zu meiner Pension ein wenig dazu verdienen. Ich bin seit kurzem auch wieder Unternehmerin geworden. So einen Schritt hätte ich vor einiger Zeit für unmöglich gehalten. Ich muss aber erwähnen, dass ich über ein Kleinstunternehmen nicht mehr hinauskommen werde, denn von einer Vollzeiterwerbsbeschätigung bin ich sehr weit entfernt und halte dies auch nicht mehr für möglich.

Du fragst nach einem Lieblingsgericht? Das eine gibt es nicht, aber ein bevorzugtes ist auf alle Fälle Tartar in allen Variationen, egal ob Fisch oder Fleisch. Auch bei einem Lieblingsrestaurant tue ich mir schwer, es gibt sehr, sehr viele die ich gerne besuche, aber es gibt tatsächlich einen Favoriten, und das seit über 30 Jahren, das ist das Restaurant Auerhahn in Salzburg.

 

Susannah Winter:  Welche Tipps würdest du Menschen geben, die mit derselben Erkrankung zu kämpfen haben?

Claudia Braunstein: Ich denke, wie bei jeder schweren Erkrankung ist es wichtig offen damit umzugehen. Man erhält dadurch mehr Hilfe, Unterstützung und Verständnis. Oft ist die Familie der wichtigste Ansprechpartner. Man muss nur vorsichtig sein, die Angehörigen nicht zu überfordern. Eine negative Auseinandersetzung schadet auf alle Fälle. Wer sich ständig nur bedauert, wird kaum glücklich sein. Man kann auch in den ausweglostesten Situationen noch etwas Positives finden. Das Loslassen fiel mir manchmal sehr schwer, aber es ist ungemein wichtig sich von Ballast zu befreien, auch wenn das manchmal sehr schmerzhaft ist. Ich halte es auch für sehr wichtig professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Je früher desto besser. Ich gehe, zwar selten, aber doch zu meiner Psychotherapeutin. Oft vergehen Monate zwischen den Besuchen, aber wenn ich das Gefühl habe, etwas los zu werden, dann mache ich mir einen Termin aus. Die arme Frau darf sich dann eine Stunde mein Gejammer anhören und wenn ich hinausgehe, dann ist mir immer leichter. Es reicht meistens wenn sie mir sagt, dass ich die ganze Situation sehr bravourös meistere.

 

Susannah Winter: Die letzte Frage ist sehr persönlich: Auch Mundhöhlenkrebs kann Metastasen bilden. Dies fast nie über das Blut, sondern über die Lymphe. Tatsächlich sind 30-40% der Menschen bei der Diagnose schon von Metastasenbildung betroffen. Insgesamt betrachtet, überleben zwischen 50 und 60% der Patienten mit einem Tumor der Mundhöhle die ersten fünf Jahre nach Diagnosestellung. Die individuelle Prognose hängt allerdings maßgeblich davon ab, in welchem Stadium der Krebs erkannt und behandelt wird. Die 5-Jahres-Überlebensrate sinkt auf ca. 40%, wenn sich in den Halslymphknoten Metastasen gebildet haben. Bei Fernmetastasen ist die Prognose ungünstig. Es gibt also durchaus ein nicht geringes Risiko, an diesem Krebs zu versterben. Gerade in der Zeit vor der Diagnose und Behandlung oder währenddessen: Wie präsent war das Thema „Tod“ für dich? Hast du dich damit auseinandergesetzt und in welcher Form?

Claudia Braunstein: Auch bei mir waren Lymphknoten im Hals betroffen und deshalb wurde diese Region sehr großzügig ausgeräumt. Das ist heute übrigens eine meiner großen Schwachstellen, die mir immer wieder große Probleme macht. Jeder Wetterwechsel ist eine halbe Katastrophe. Im Winter, bei feuchter Kälte kann ich oft das Haus nicht verlassen, weil es mir den Hals abschnürt.  Mein Tumor hatte die Größe T2, das bedeutet, dass er größer als 2 cm war. 21 Lymphknoten wurden entfernt, 4 davon waren befallen. Fernmetastasen gibt es bei dieser Krebsart nur äußerst selten. Allerdings gilt diese Krebsart als  hoch rezidivanfällig. Das mag auch daran liegen, dass viele Patienten die ein Suchtproblem haben, wieder in ihr altes Schema zurückfallen. Ich sehe das leider auch bei vielen Menschen die ich begleite, diejenigen die wieder rauchen und/oder Alkohol trinken haben vermehrt mit Rezidiven zu kämpfen, wie jene, die diese Süchte nicht aufweisen. Das ist für mich mit ein Grund gänzlich auf Alkohol zu verzichten. Ich kann mich auch nur mehr sehr verschwommen daran erinnern, jemals geraucht zu haben, was ich aber tat, und habe heute ein leidliches Problem, wenn in meiner Gegenwart geraucht wird. Das merke ich auch körperlich. Ich habe mich mit dem Thema Tod natürlich auseinandergesetzt, aber nie mit irgendwelchen Ängsten verbunden. Ich habe keine Angst vor dem Tod, wovor ich jedoch sehr großen Respekt habe, wäre eine lange, schmerzhafte Sterbephase. Dafür habe ich eine Patientenverfügung, die einen solchen Fall regeln sollte. Selbst das Thema Rezidiv macht mir keine Angst. Ich war ja vor knapp zwei Jahren in der Situation, dass das MRI an der ehemaligen Tumorstelle eine relativ große Anomalie dargestellt hat. Es deutete sehr viel darauf hin, dass der Böse wieder zurückgekehrt sein könnte. Ich erinnere mich, dass meine behandelnden Ärzte ziemlich nervös waren, während ich mit klarem Kopf die eventuellen Konsequenzen durchdacht hatte. Allen voran ein Termin beim Fotografen, denn ich wusste, ich würde nie wieder so aussehen. Es hätte ein Teil des Unterkiefers entfernt werden müssen, keine schönen Aussichten, aber auch das wäre zu bewältigen gewesen. Es hat ein halbes Jahr und unzählige Untersuchungen mit mehreren Klinikaufenthalten gedauert, bis alle Unklarheiten aus dem Weg geräumt waren. Jetzt kann ich annehmen, dass ich die Krankheit wirklich hinter mir gelassen habe. 100 % Sicherheit gibt es nie, aber 5 Jahre krebsfrei ist schon ein sehr großer Erfolg. Auch wenn die Erkrankung durch die massiven Behinderungen immer noch präsent ist, es macht mir das Leben nicht schwer. Ich habe so viele Ventile gefunden, die mir sofort behilflich sind Dampf abzulassen. Es haben sich eine große Zahl an neuen Aspekten gefunden, so, dass ich mein altes Leben nur selten vermisse.

 

Susannah Winter: Liebe Claudia, ich danke dir von Herzen für dieses Interview und wünsche dir für deine zahlreichen Projekte für die Zukunft viel Erfolg.

 


Hier Links zu den wichtigsten Seiten und Projekten von Claudia Braunstein:

Die preisgekrönte Food-Blog-Seite „Geschmeidige Köstlichkeiten“: http://geschmeidigekoestlichkeiten.at/

Claudia on Tour, Geschichten von unterwegs. Ein Restaurantguide für barrierefreies Essen quer durch die Welt: http://www.claudiaontour.com/

Im Dachverband der Selbsthilfegruppe in Salzburg findet man auch die Selbsthilfe:Zungenkrebs: http://www.selbsthilfe-salzburg.at/

Und natürlich noch Claudia Braunsteins Blog auf FischundFleisch.com: https://www.fischundfleisch.com/claudia-braunstein/

Claudia Braunstein ist zudem als Sprecherin auf der „Integra“ zu sehen, am 27. u. 28.04.2016 in Wels http://www.integra.at/rahmenprogramm/

(FÜR DIE  BLOG-REIHE „REDEN WIR ÜBER…“ SUCHT DIE AUTORIN AUCH IN ZUKUNFT MENSCHEN, DIE ÜBER IHRE PHYSISCHE/PSYCHISCHE ERKRANKUNG IM KONTEXT GESELLSCHAFT/POLITIK/INKLUSION ABER AUCH ALLGEMEIN ÜBER IHR INDIVIDUELLES ERLEBEN BERICHTEN WOLLEN.)

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