Samstag, April 20, 2024

Wissenschaftliche Corona-Studien in den Medien

Stellungnahme der Gesellschaft für Virologie (GfV) zur aktuellen Diskussion um wissenschaftliche Corona-Studien in den Medien.

In der aktuellen Diskussion um ein geeignetes Vorgehen bei der Lockerung der Eindämmungsmaßnahmen gegen die SARS-CoV-2- Ausbreitung in Deutschland, spielen wissenschaftliche Untersuchungen zur Virusübertragung, zum Infektionsrisiko in verschiedenen Bevölkerungsgruppen und zum Nachweis von Antikörpern eine sehr wichtige Rolle. Politik und Medien nutzen diese Daten zurecht für Handlungsempfehlungen und politische Entscheidungen. In den letzten Tagen ist es zu öffentlich ausgetragenen wissenschaftlichen Bewertungen und Abwägungen gekommen, die – befeuert von einigen Medien – zu Konflikten zwischen einzelnen Wissenschaftlern hochstilisiert wurden. Die Gesellschaft für Virologie sieht sich daher veranlasst, auf wichtige Grundsätze der wissenschaftlichen Diskussion hinzuweisen, die in Medien, Politik und Gesellschaft vielleicht nicht immer bekannt sind und daher mitunter nicht berücksichtigt werden.

 

Erkenntnisse immer wieder neu bewerten und anpassen

Die kontroverse Diskussion um die Stärken und Schwächen wissenschaftlicher Studien sowie ihre Interpretation ist ein unverzichtbarer Bestandteil des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses und des wissenschaftlichen Fortschritts überhaupt. Die weit verbreitete Erwartung einer prompten und endgültigen Wahrheit als Ergebnis einer Untersuchung ist wissenschaftsfremd. Auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauende Handlungsempfehlungen entsprechen daher nur dem aktuellen Stand des Wissens und müssen im Licht des Erkenntnisfortschritts immer wieder neu bewertet und angepasst werden.

 

Evidenz

Wissenschaftliche Evidenz wird in den wenigsten Fällen durch eine singuläre Studie generiert, sondern durch die vielfache Reproduktion von Daten mit denselben oder anderen Forschungsansätzen. Die daraus resultierenden Ergebnisse ergänzen bzw. korrigieren sich und erlauben immer zielgenauere Interpretationen. Deshalb besitzen Replikationsstudien, also solche, die der Überprüfung eines Befundes dienen, sehr hohen wissenschaftlichen Wert.

 

Preprint und Interpretationen

Wissenschaftliche Daten in Studien, die lediglich auf Preprint- oder Universitäts-Servern öffentlich zugänglich gemacht werden und kein Peer-Review-Verfahren durchlaufen haben, sind immer vorläufig, ohne dass dies explizit betont werden muss. Auch die Kritik durch (zumeist fachnahe) Experten an diesen Ergebnissen ist in diesem Stadium, also vor der eigentlichen Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift, als vorläufig zu verstehen und muss mit diesem entscheidend wichtigen Vorbehalt betrachtet werden.

Die Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse und Meinungen in den Medien sollte immer sachlichen Kriterien folgen. Dazu gehören Zitationen, die die ursprüngliche Aussage nicht grob vereinfachen, entstellen oder bewusst verfälschen, um gezielt einen bestimmten Eindruck zu erwecken.

 

Seriosität wissenschaftlichen Arbeitens geschmälert

Die Gesellschaft für Virologie findet es sehr bedauerlich, dass Teile der deutschen Presse sowie einige wenige Diskutanten auf öffentlichen Internetforen die sachliche Auseinandersetzung zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nutzen konnten, um persönlich erscheinende Konflikte hervorzurufen und diese für eigene Zwecke, wie etwa die Steigerung von Zugriffszahlen, zu instrumentalisieren. Dadurch wird der Eindruck einer zerstrittenen Wissenschaftsgemeinschaft erweckt und das Vertrauen in die Seriosität wissenschaftlichen Arbeitens geschmälert.

 

Vertrauen in Virologie und Wissenschaft darf nicht verloren gehen

Die COVID-19-Pandemie und die durch sie verursachten Herausforderungen sind noch lange nicht vorbei und es können uns noch gesellschaftliche Bewährungsproben erwarten. Deshalb darf das Vertrauen der Menschen in die Virologie und die Wissenschaft insgesamt nicht verloren gehen.

Die Gesellschaft für Virologie appelliert deshalb mit Nachdruck an alle Beteiligten, ihrer langfristigen Verantwortung einer objektiven Berichterstattung weiterhin gerecht zu werden.

Dazu gehört es, wissenschaftliches Arbeiten transparent zu machen und zu erklären, aber nicht eine wissenschaftliche Debatte zu personalisieren oder gar zu skandalisieren. Letzteres ist schädlich für die Aufklärung in der Sache und behindert eine sachgerechte Meinungsbildung.


Für die Gesellschaft für Virologie (GfV)

Prof. Dr. Hartmut Hengel

Prof. Dr. Ralf Bartenschlager

Freiburg/Heidelberg, den 4.6.2020

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