Sonntag, März 17, 2024

Volkskrankheit Myopie – Kurzsichtigkeit

Volkskrankheit Myopie – Kurzsichtigkeit: Mit Kontaktlinsen, Atropin-Tropfen, Bildschirmverbot und mehr Licht in der Schule der Myopie-Progression entgegenwirken.

Unter dem Strich ist die Kurzsichtigkeit – die Myopie – die häufigste Entwicklungsanomalie der Augen. Dabei sind aktuell weltweit 1,5 Milliarden Menschen betroffen. Weiter sind 50 Millionen Betroffene mit mehr als sechs Dioptrien (D) „hoch myop“. Bis 2050 werden diese Zahlen auf fünf Milliarden respektive einer Milliarde ansteigen. In einigen asiatischen Ländern sind außerdem bis zu 96 Prozent der 20-Jährigen myop. Wobei in Europa aktuell 47 Prozent der 25-Jährigen betroffen sind. Deswegen hat die WHO auch die Zunahme der Myopie zu einem weltweiten Gesundheitsproblem erklärt, dementsprechend listet sie Kurzsichtigkeit unter den fünf Augenerkrankungen, deren Eindämmung höchste Priorität hat. Außerdem ist die hohe Myopie neben dem hohem Lebensalter der Hauptrisikofaktor für gravierende Augenerkrankungen wie Makuladegeneration, Netzhautablösung, Katarakt sowie Glaukom.

 

Ursachen der Myopie – Kurzsichtigkeit – und Gründe ihrer zunehmenden Häufigkeit

Myopie beginnt meist im Grundschulalter und schreitet bis zum frühen Erwachsenenalter fort. Somit ist sie ein kinder- und augenheilkundlich sehr relevantes Thema. Was sind einerseits die Ursachen der Myopie und andererseits die Gründe ihrer zunehmenden Häufigkeit? Zunächst spielen genetische Faktoren eine Rolle. Myopie bei Eltern ist ein eindeutiger Risikofaktor für Myopie ihrer Kinder.

Das Consortium for Refractive Error and Myopia hat Daten der bislang umfassendsten genomweiten Metaanalyse aus 32 Kohorten unterschiedlicher Herkunftsländer mit insgesamt 45.758 Individuen vorgelegt. Hierzu wurden 24 verantwortliche Gene identifiziert, mit hoher Übereinstimmung asiatischer und kaukasischer Populationen. Die rasche, pandemische Zunahme der Myopie kann jedoch nur durch Umweltfaktoren und Verhalten erklärt werden:

Inzwischen steht außer Zweifel, dass Myopie mit dem Bildungsgrad und dem Ausmaß an Naharbeit korreliert. Kinder, die sich weniger im Tageslicht aufhalten, haben ein erhöhtes Risiko, myop zu werden.

 

Myopie-Progression bremsen, dem Fortschreiten der Kurzsichtigkeit entgegenwirken

Daher ist es ein dringendes Ziel, das Fortschreiten einer Myopie zu verlangsamen, und zwar dann, wenn sie beginnt, also im Grundschulalter. Wenn es gelingt, durch therapeutische Maßnahmen die Myopie-Progression um nur 33 Prozent zu mindern, kann man bezogen auf die Gesamtbevölkerung davon ausgehen, dass der Anteil hoch myoper Menschen um 73 Prozent sinkt und damit das Risiko für sekundäre Augenerkrankungen deutlich abnimmt (13). Im Folgenden werden die drei Maßnahmen erläutert, welche betroffenen Kindern angeboten werden können.

 

Tageslicht

Der positive Einfluss einer hohen Beleuchtungsstärke und der negative Einfluss von Naharbeit sind lange bekannt. Bereits 1892 vertrat der deutsche Augenarzt Hermann Cohn die Meinung, dass die geringen Beleuchtungsstärken in vielen Schulen ein Risiko für die Myopie-Entstehung darstellen. Er propagierte, dass Lesen in der Schule auf die hellen Mittagsstunden beschränkt werden sollte. 1935 schrieb der britische Augenarzt Sir William Duke-Elder “The regime of modern schools imposes far too much application to books upon young children at an age when they require all their available vitality for physical growth and development.”. 80 Jahre später sind digitale Medien dazugekommen und diese Aussagen haben sicher immer noch Gültigkeit.

Die amerikanische Orinda-Studie zeigte, dass Drittklässler im Fünfjahresverlauf mit jeder Stunde Tageslichtexposition pro Woche ihr Myopie-Risiko um zehn Prozent senkten (Odds Ratio 0,91 für eine Stunde „outdoor“/Sport). Eine Metaanalyse basierend auf sieben Querschnittstudien und 16 kleineren Untersuchungen ergab, dass die Myopie-Wahrscheinlichkeit mit jeder Stunde Tageslichtexposition pro Tag um 15 Prozent sinkt (Odds Ratio Myopie bei einer zusätzlichen Stunde Tageslichtexposition pro Tag 0,87).
Zwei klinische Studien belegen den Einfluss jahreszeitlicher Schwankungen der Tageslichtmenge.

In Dänemark wurden 235 myope Kinder im Alter zwischen acht und 14 Jahren über jeweils sechs Monate untersucht. Kinder mit 2 782 kumulativen Stunden Tageslicht (Sommer) zeigten in diesem Zeitraum 0,26 D Progression, Kinder mit 1.681 kumulativen Stunden Tageslicht 0,32 D (Winter, p = 0,01). Unter 358 US-amerikanischen Kindern fand sich in einem mittleren Alter von zehn Jahren und einer mittleren Myopie von 2,5 D im Winterhalbjahr eine Progression von 0,35 D und im Sommerhalbjahr von 0,14 D / Halbjahr.

 

Die Schulpause sollten Kinder im Freien verbringen. Denn das halbiert das Risiko.

Schließlich ergab eine zweiarmige Studie aus Taiwan mit 571 Kindern im Alter von sieben bis elf Jahren, dass die Kinder, die die Schulpausen draußen anstatt im Schulgebäude verbrachten – das heißt, im Mittel täglich 80 Minuten länger draußen waren –, ein halbiertes Risiko für das Auftreten einer Myopie hatten (17).

Weiter ergab eine ähnliche Studie aus China mit insgesamt 1.903 Schülern im mittleren Alter von sieben Jahren, von denen die eine Hälfte aufgefordert wurde, 40 Minuten länger pro Tag als üblich draußen zu sein, dass das Myopie-Risiko durch diese Maßnahme von 40 Prozent auf 30 Prozent abnahm (p<0,001).

Ferner lag die Myopie-Progression über drei Jahre in der Interventionsgruppe bei 1,4 D und in der Kontrollgruppe bei 1,6 D. Eine weitere ebenfalls chinesische Studie an 3 051 Kindern im Alter zwischen sechs und elf Jahren zeigte, dass 20 Minuten zusätzliches Tageslicht das Auftreten einer Myopie innerhalb eines Jahres von neun Prozent auf vier Prozent und die Refraktionsänderung von 0,3 D / Jahr auf 0,1 D / Jahr senkte. Somit zeichnet sich inzwischen ein recht konsistentes Bild, welches allerdings ausschließlich auf Daten aus Asien basiert.

 

Atropin-Augentropfen bei Myopie: Fortschreiten der Kurzsichtigkeit bremsen

Im Grunde genommen ist seit über 100 Jahren bekannt, dass Atropin-Augentropfen die Myopie-Progression mindern. Aufgrund von Nebenwirkungen wie Blendungsempfindlichkeit sowie Nahsehstörungen bot sich diese Therapie bisher nicht wirklich an. Erst die neueren Studienergebnisse mit niedrig konzentriertem Atropin lassen diesen Ansatz als sinnvolle Option erscheinen.

Eine MEDLINE-Literatursuche lieferte unlängst 90 Publikationen. Jedoch ist nur eine Studie eine vollständig randomisierte, kontrollierte klinische Studie, nämlich die ATOM (Atropine in the Treatment of Myopia)-Studie aus Singapur, in welcher Atropin-Augentropfen in vier verschiedenen Konzentrationen über eine Behandlungszeit von zwei Jahren mit Plazebo verglichen wurden. Während die Progression unter Plazebo 1,20 D / Jahr betrug, lag sie unter Atropin 1 Prozent bei 0,2, mit Atropin 0,5 Prozent bei 0,30, mit Atropin 0,1 Prozent bei 0,38 und mit Atropin 0,01 Prozent bei 0,49 D / Jahr.

Seitdem sind zwei weitere vergleichsweise kleine Studien zu dem Thema veröffentlicht worden. In einer chinesischen Arbeit wurde einprozentiges Atropin gegen Plazebo geprüft. Während der Beobachtungszeit von einem Jahr fand unter Atropin keine Progression statt. In einer US-amerikanischen, multiethnischen Studie reduzierte 0,01%iges Atropin die Progression im Vergleich zu Plazebo von 0,6 D / Jahr auf 0,1 D / Jahr.

 

Hohe Konzentration aufgrund der Nebenwirkungen nicht zu empfehlen

Nach dieser Metaanalyse wurde aus den Niederlanden eine Anwendungsbeobachtung publiziert, in welcher 77 myope Kinder mit hauptsächlich europäischer Abstammung und einem mittleren Alter von zehn Jahren mit 0,5 Prozent Atropin behandelt wurden. Zu Beginn der Therapie lag die mittlere Refraktion bei -6,6 D. Vor Therapie betrug die jährliche Progression 1,0 D / Jahr, danach 0,1 D / Jahr.

Dabei berichteten 72 Prozent der Kinder über Lichtempfindlichkeit unter dieser hohen Dosis. Ausßerdem gaben 38 Prozent Leseprobleme und 22 Prozent Kopfschmerzen an. Somit ist diese hohe Konzentration im ersten Behandlungsjahr zwar sehr effektiv, aber aufgrund der Nebenwirkungen nicht zu empfehlen.

Die messbaren Nebenwirkungen sind unter niedrig dosiertem Atropin weitaus geringer und klinisch kaum relevant. In der ATOM2-Studie hatten Kinder unter Therapie mit 0,01 Prozent Atropin eine Mydriasis von 1 mm und eine Hypoakkommodation von 2 D. Loughman und Flitcroft berichten, dass 0,01 Prozent Atropin bei 14 irischen Studenten zwischen 18 und 27 Jahren zu einer Mydriasis von 1,2 mm (p = 0,04) und einer Hypoakkommodation von 1,1 D (p = 0,08) führte. Die Lesegeschwindigkeit war nicht beeinträchtigt. Cooper et al. ermittelten an zwölf amerikanischen Kindern im Alter zwischen acht und 16 Jahren eine Grenzdosis von 0,02 Prozent.

 

Bifokalbrillen und multifokale Kontaktlinsen

Eine weitere Möglichkeit der Minderung einer Myopie-Progression sind optische Mittel wie Bifokalbrillen oder multifokale Kontaktlinsen. Ihr Wirkungsprinzip beruht auf der optischen Korrektion der relativen Weitsichtigkeit der peripheren Netzhaut, die sich häufig bei Myopen findet, das heißt, dass diese Augen eine sogennante prolate Form haben und sich die Lichtstrahlen in der optischen Achse vor der Netzhaut bündeln, in den Außenbereichen der Netzhaut aber dahinter. Dieser optische Fehler fördert und unterhält die Myopie-Progression. Asphärische Brillengläser, Bifokalgläser mit großem Nahteil und entsprechend optisch aufgebaute, also multifokale Kontaktlinsen können den peripheren Defokus korrigieren.

 

Multifokale Linsensysteme

Inzwischen liegen verschiedene randomisierte, kontrollierte Studien vor, welche multifokale Linsensysteme mit monofokalen Kontaktlinsen vergleichen. Anstice et al. untersuchten 40 Kinder im Alter zwischen elf und 14 Jahren mit einer mittleren Myopie von 2,7 D. Mit Standardlinsen lag die Progression bei 0,7 D / Jahr, mit multifokalen bei 0,4 D / Jahr, die Progression wurde also um 26 Prozent gemindert.

Schließlich untersuchten Lam et al. 128 Kinder im Alter zwischen acht und 13 Jahren und einer Myopie von 1 bis 5 D. Unter monofokalen Linsen betrug die Progression 0,4 D / Jahr, mit multifokalen Linsen 0,3 D / Jahr, entsprechend 25 Prozent Progressionsminderung.

Aller et al. untersuchten 86 Kinder zwischen acht und 18 Jahren mit einer mittleren Myopie von 2,7 D. Unter monofokaler Kontaktlinse betrug die Progression 0,8 D / Jahr, mit einer multifokalen Linse nur 0,2 D / Jahr (31). Hier lag die Progressionsminderung mit 72 Prozent wesentlich höher und die Autoren verwiesen darauf, dass weitere Studien notwendig sind, um die spezifischen Faktoren und Mechanismen zu identifizieren, die einen so hohen Effekt ermöglichten.

 

Fortschritte bei Kontaktlinsen

Alle bei diesen Studien verwendeten Multifokal-Kontaktlinsen wiesen jedenfalls eine zentrale Fernzone und eine periphere Addition von bis zu 2,5 D auf. Dabei handelt es sich ferner bei den bisher geprüften multifokalen Linsen ausschließlich um Weichlinsen. Hierzu wäre es wünschenswert, wenn es in Zukunft formstabile Alternativen gäbe, welche einen kornealen Astigmatismus ausgleichen können und ein geringeres Infektionsrisiko aufweisen. Gewöhnliche monofokale Kontaktlinsen haben im Vergleich zur Brillenkorrektion keinen Progression mindernden Effekt.

Unter dem Strich sind im Vergleich zu Atropin-Tropfen die Effekte der Progressionsminderung durch optische Mittel geringer. Die bereits erwähnte Netzwerk-Metaanalyse aller bisher publizierten Studien reiht die Effektgrößen in Bezug auf die Progressionsminderung in D /Jahr wie folgt.

  • Atropin-Tropfen hochdosiert 0,68,
  • Atropin-Tropfen niedrigdosiert 0,53,
  • Cyclopentolat-Tropfen 0,33,
  • Pirenzepin 0,29,
  • peripheren Defokus korrigierende Kontaktlinsen 0,21,
  • täglich zwei Stunden Tageslicht 0,14,
  • Gleitsichtbrillen 0,14,
  • peripheren Defokus korrigierende Brillengläser 0,12,
  • bifokale Brillengläser 0,09.

Bisher nicht untersucht wurden mögliche additive Effekte dieser Therapieformen. Deswegen sind weitere klinische Studien notwendig, um die Wirksamkeit dieser Therapien auch für europäische Kinder zu belegen.


Literatur:

Rose et al. Outdoor activity reduces the prevalence of myopia in children. Ophthalmology. August 2008;115(8):1279–85.

Gwiazda et al. Seasonal variations in the progression of myopia in children enrolled in the correction of myopia evaluation trial. Invest Ophthalmol Vis Sci. Februar 2014;55(2):752–8.

Polling et al. Duke-Elder’s Views on Prognosis, Prophylaxis, and Treatment of Myopia: Way Ahead of His Time. Strabismus. März 2016;24(1):40–3.

Jones et al. Parental history of myopia, sports and outdoor activities, and future myopia. Invest Ophthalmol Vis Sci. August 2007;48(8):3524–32.

Sherwin et al. The association between time spent outdoors and myopia in children and adolescents: a systematic review and meta-analysis. Ophthalmology. Oktober 2012;119(10):2141–51.

Wu et al. Outdoor activity during class recess reduces myopia onset and progression in school children. Ophthalmology. Mai 2013;120(5):1080–5.

He et al. Effect of Time Spent Outdoors at School on the Development of Myopia Among Children in China: A Randomized Clinical Trial. JAMA. 15. September 2015;314(11):1142–8.

Jin et al. Effect of outdoor activity on myopia onset and progression in school-aged children in northeast China: the Sujiatun Eye Care Study. BMC Ophthalmol. Juli 2015;15:73.

Derby H. On the Atropine Treatment of Acquired and Progressive Myopia. Trans Am Ophthalmol Soc. 1874;2:139–54.

Chua et al. Atropine for the treatment of childhood myopia. Ophthalmology. Dezember 2006;113(12):2285–91.


Quelle:

Statement » Volkskrankheit Kurzsichtigkeit: Wie schützen wir unsere Kinder vor Myopie – Kontaktlinsen, Atropin-Tropfen, Bildschirmverbot und mehr Licht in der Schule? « von Professor Dr. med. Wolf Lagrèze, Leitender Arzt der Sektion Neuroophthalmologie, Kinderophthalmologie und Schielbehandlung, Klinik für Augenheilkunde, Universitätsklinikum Freiburg anlässlich des 114. Kongresses der DOG, 29. September 2016, Berlin.

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