Donnerstag, März 28, 2024

Umgekehrte Geschlechtsentwicklung bei Amphibien durch Pillen-Östrogen

Die bislang unbemerkte umgekehrte Geschlechtsentwicklung durch Pillen-Östrogen könnte zum weltweiten Artensterben von Amphibien beitragen. Auch der Mensch soll beeinträchigt sein.

 

In manchen Gewässern kommt das sogenannte Pillen-Östrogen Ethinylestradiol in „biologisch relevanten“ Konzentrationen  vor, so dass sie das Hormonsystem der Tiere und die Geschlechtsentwicklung beeinflussen. Forscher vom IGB und der Universität Wroclaw verglichen bei drei Amphibienarten die Wirkungen von Pillen-Östrogen Ethinylestradiol (EE2) auf die Geschlechtsentwicklung.

Die in „Scientific Reports“ publizierte Studie zeigt, dass EE2 zur vollständigen Verweiblichung genetischer Männchen führen kann. Ohne molekulare Feststellung des genetischen Geschlechts blieb dies bislang teilweise unbemerkt.

 

Pillen-Östrogen 17α-Ethinylestradiol in Kläranlagen unvollständig abgebaut

Das Pillen-Östrogen 17α-Ethinylestradiol (EE2) ist ein synthetisches Östrogen, das sehr häufig in Verhütungspillen verwendet wird, aber in der Umwelt natürlicherweise nicht vorkommt. Da es in Kläranlagen nur unvollständig abgebaut wird, kann es in biologisch relevanten Konzentrationen in die Gewässer gelangen.

Der Evolutionsbiologe Dr. Matthias Stöck, Leiter der Studie und Heisenberg-Stipendiat am IGB, sagt: „Amphibien sind solchen Beeinträchtigungen in der Umwelt nahezu ständig ausgesetzt. Nur, wenn wir überhaupt in der Lage sind, sie erfassbar zu machen, können wir sie langfristig auch verhindern.”

 

Umgekehrte Geschlechtsentwicklung: Verweiblichung von Populationen

Die Empfindlichkeit gegenüber hormonell aktiven Substanzen wie 17α-Ethinylestradiol ist nicht bei allen Amphibienarten gleich, so die Hypothese der Wissenschaftler; schließlich haben einige Arten hunderte Millionen Jahre getrennter Evolutionsgeschichte durchlaufen und verschiedene genetische Mechanismen ihrer Geschlechtsentwicklung evolviert.

Daher hat das Forscherteam vom IGB und der Universität Wroclaw erstmals den Einfluss von 17α-Ethinylestradiol auf die Entwicklung von drei verschiedenen Amphibienarten im gleichen Experiment getestet: Neben der Amphibien-Modellart, dem Afrikanischen Krallenfrosch (Xenopus laevis), wurden auch Kaulquappen des Laubfrosches (Hyla arborea) und der Wechselkröte (Bufo viridis) in Wasser aufgezogen, welches unterschiedliche Konzentrationen von 17α-Ethinylestradiol enthielt und mit Kontrollgruppen verglichen. Besonders war bei diesem Forschungsansatz, dass das genetische Geschlecht aller Arten mittels neuster molekularen Methoden festgestellt wurde.

Zugleich untersuchten die Forscher die phänotypische Entwicklung der Geschlechtsorgane – also das äußere Erscheinungsbild und das Aussehen der Gewebe unter dem Mikroskop. Erst dieser Vergleich von genetischem und phänotypischem Geschlecht hat es ermöglicht, die Wirkung von 17α-Ethinylestradiol vollständig zu erfassen. „Die Verweiblichung von Populationen kann neben anderen schädigenden Hormonwirkungen zum Aussterben von Amphibienarten beitragen,“ sagt Matthias Stöck.

 

Für Menschen ernstzunehmende Beeinträchtigung

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass nach der Exposition mit 17α-Ethinylestradiol bei allen drei Amphibienarten eine Geschlechtsumkehr von genetisch männlichen zu weiblichen Tieren auftritt; dabei reicht der Anteil von 15 bis zu 100 Prozent. Die drei Arten reagieren jedoch unterschiedlich empfindlich.

Der international renommierter Ökotoxikologe und IGB-Forscher Prof. Werner Kloas, Co-Autor der Studie, sagt zu den Ergebnissen: „EE2 ist auch in unserem Wasserkreislauf enthalten und stellt, zusammen mit anderen östrogenartig wirkenden Stoffen nicht nur für Amphibien, sondern auch für uns Menschen eine ernstzunehmende Beeinträchtigung dar. Unsere Studie zeigt, dass der Afrikanische Krallenfrosch als Modellart sehr gut geeignet ist, um die Wirkung von hormonell aktiven Substanzen in der Umwelt zu erforschen. Die Wirkungen, die wir an dieser Tierart feststellen, lassen sich aber nicht ohne weiteres auf andere Amphibienarten übertragen.“

Für die Durchführung der Studie war die Zusammenarbeit mit der Universität Wroclaw in Polen essenziell. Die dortige Kooperationspartnerin, Prof. Maria Ogielska, erklärt: „Wir haben unsere jahrelangen Erfahrungen bei der Erforschung der Fortpflanzung von Amphibien, vor allem deren Entwicklungsbiologie, in das Projekt eingebracht.”
Doktorandin Stephanie Tamschick sagt: „Zusammen mit Studenten haben wir über drei Monate die Kaulquappen unter identischen Versuchsbedingungen aufgezogen. Neu war, dass wir bei allen Arten das genetische Geschlecht – also ob eine Kaulquappe genetisch männlich oder weiblich ist – ermittelt haben. Besonders dadurch konnte ich im Rahmen meiner Doktorarbeit feststellen, dass sich die verweiblichende Wirkung von EE2 so unterschiedlich bei den untersuchten Frosch- und Krötenarten auswirkt.“

Die Studie wurde durch eine Projektförderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für Dr. Matthias Stöck finanziert. Die Open-Access-Publikation wurde vom gleichnamigen Fond der Leibniz-Gemeinschaft unterstützt.

Quelle: Tamschick S., Rozenblut-Kościsty B., Ogielska M., Lehmann A., Lymberakis P., Hoffmann F., Lutz I., Kloas W., Stöck M. (2016): Sex reversal assessments reveal different vulnerability to endocrine disruption between deeply diverged anuran lineages. Scientific Reports 6: 23825 [DOI:10.1038/srep23825]
Frei verfügbar: www.nature.com/articles/srep23825

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