Donnerstag, März 28, 2024

Synästhesie und Gehirnforschung

Neun Wochen Synästhesie-Training brachte Menschen dazu, Farbe statt Schwarz zu sehen – was für die Gehirnforschung einen großen Schritt bedeuten könnte.

Anders als bei vielen anderen Anomalien, wird Synästhesie von den Betroffenen kaum jemals als Krankheit empfunden. Tatsächlich können sich die meisten Synästhetiker nicht vorstellen, mit einer eindimensionalen Sinneswahrnehmung zu leben. In einer Welt, in der eben Farben nur Farben sind und sonst nichts. Wo die Zahl 28 nicht wie Lakritze schmeckt oder Bäume wie Regen klingen. Wobei man vermutet, dass Menschen mit Synästhesie ein im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung verbessertes Gedächtnis haben. Beispielsweise wenn sie Farben für Buchstaben und Zahlen erleben.

Dabei könnte es eine Verbindung zwischen diesen beiden Welten geben. In einer rezenten Studie der Universität von Sussex fand man heraus, dass nach mehrwöchigem intensiven „Synästhesie-Training“ nicht-synästhetische Erwachsene in der Lage waren, schwarz gedruckten Text als „bunten“ Text zu lesen. Die an diesem Projekt beteiligten Forscher betonen, dass diese Ergebnisse einen Einblick in die grundlegenden Prozesse der Informationsverarbeitung im Gehirn bieten könnten.

 

Können Erwachsene verlernen, „schwarz“ zu sehen?

Die meisten Synästhesie Studien beruhen auf einem Phänomen, dass in der Farbpsychologie als „Stroop-Effekt“ bekannt ist. Bei dem Stroop-Test werden die Probanden mit einer Liste von Farben – gelb, grün und blau – konfrontiert. Dabei ist jedes Wort mit einer anderen Farbe als die Wortbedeutung dargestellt. Zum Beispiel ist das Wort „gelb“ in roter Farbe und das Wort „blau“ in gelber Farbe geschrieben. Die Testpersonen sollen die Textfarbe angeben und den Text nicht „lesen“. Die meisten Menschen haben so ihre Schwierigkeiten damit – Synästhetiker finden sich aber sehr schnell zurecht, weil Farben und Worte bereits konkrete Verknüpfungen in ihrem Gehirn gebildet haben. Sie finden die gewünschte Farbe einfach schneller.

 

Wörter und Klänge schmecken farblich sehen

In der Hoffnung, diesen Effekt zu imitieren, bat ein Team unter der Leitung von Neurowissenschaftler Daniel Bor 14 Personen zu umfangreichen Trainingsmaßnahmen in ein Labor. Wochenlang lasen die Teilnehmer nur in speziellen e-Books mit einer eigens entworfenen farbigen Schrift und verbrachten halbstündige Testblöcke um 13 Buchstaben-Farben-Gruppen zu erlernen. Ziel war es, diese „Vermischung der Sinne“ (wie eben die Synästhetiker Wörter „schmecken“ und Klang „sehen“) anzutrainieren. Nach fünf Wochen konnten viele der Teilnehmer farbige Buchstaben statt schwarzem Text sehen.

Einige berichteten sogar, dass sie farbige Buchstaben auch im täglichen Leben sehen könnten. Die Probanden empfanden dies – genauso wie „echte“ Synästhetiker – nicht als Frustration, sondern als Bereicherung. „Sie waren nachgerade begeistert, diese zusätzlichen Erfahrungen gemacht zu haben“ meint dazu Daniel Bor.

Am Ende der neun Wochen bestätigten die meisten der Probanden, sie hätten synästhetische Wahrnehmungen gehabt. Gewöhnliche Verkehrszeichen schienen beispielsweise in Farben zu explodieren. „Die Farbe schoss direkt in meinen Kopf“, berichtete ein Proband, der besonders starke Auswirkungen zu spüren glaubte. „Wenn ich ein Verkehrszeichen ansehe, erscheint der ganze Text in den antrainierten Farben.“

Leider waren diese Effekte nur vorübergehend. Nach Testende ließen auch die synästhetischen Phänomene nach. Schwarz war wieder schwarz.

 

Kurzzeitige Effekte von Synästhesie bietet Einblick in die Entwicklung des Gehirns

Auch wenn für Nicht-Synästhetiker schwarz immer schwarz bleiben wird, ist dieser Forschungsbereich für Leute wie Daniel Bor nicht uninteressant. Die kurze Zeit, die Menschen damit verbrachten, die Farbwahrnehmung ihres Gehirns umzugestalten, bietet Wissenschaftlern einen Einblick in die Entwicklung unseres Gehirns. Eine Theorie besagt, dass Kinder mit Synästhesie tatsächlich nur mit einer latenten genetischen Prädisposition auf die Welt kommen. Die tatsächliche Phänomenologie (die Erfahrung der Sensorik) beginnt erst, wenn die Kinder zum Beispiel Farben mit Buchstaben in Verbindung bringen können.

Wie viele Menschen von genau dieser Art der Forschung profitieren könnten, ist noch unklar. Die Schätzungen variieren von 1:100.000 bis 1:5000. Neueste Vermutungen gehen sogar davon aus, dass jeder 1000. Mensch Synästhetiker sein könnte. Kinder merken zwar schon sehr früh, dass bei ihnen etwas „anders“ ist. Meist aber verstellen sie sich, um nicht als „Spinner“ abgestempelt zu werden und passen sich so ihrer Umwelt an. Zum Glück tendieren heutzutage solche Stigmata dazu, mit zunehmendem Bekanntheitsgrad an negativer Bedeutung zu verlieren.

 

Fremdsprache soll Synästhesie Effekte verlängern

Für Daniel Bor stehen als nächstes Tests mit anderen Sprachen auf dem Programm. Er möchte testen, ob beispielsweise dasselbe Experiment mit Hebräisch eine stärkere Wirkung zeigt. Er vermutet, dass vielleicht die Erfahrung, eine Farbe einem fremdsprachigen Buchstaben zuzuordnen, den Effekt verlängert. Ob ein Wort in einer anderen Sprache genauso süß riecht?


Quellen:

Ward J, Field AP, Chin T. Memory. A meta-analysis of memory ability in synaesthesia. 2019 Oct;27(9):1299-1312. doi: 10.1080/09658211.2019.1646771. Epub 2019 Aug 2.

Gaby Pfeifer, Jamie Ward, Natasha Sigala. Reduced Visual and Frontal Cortex Activation During Visual Working Memory in Grapheme-Color Synaesthetes Relative to Young and Older Adults. Front Syst Neurosci. 2019; 13: 29. Published online 2019 Jul 10. doi: 10.3389/fnsys.2019.00029

Carmichael DA, Smees R, Shillcock RC, Simner J. Is there a burden attached to synaesthesia? Health screening of synaesthetes in the general population. Br J Psychol. 2019 Aug;110(3):530-548. doi: 10.1111/bjop.12354. Epub 2018 Oct 3.

Daniel Bor, Nicolas Rothen, David J. Schwartzman, Stephanie Clayton & Anil K. Seth. Adults Can Be Trained to Acquire Synesthetic Experiences. Scientific Reports volume 4, Article number: 7089 (2014)

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