Dienstag, April 23, 2024

Strategien gegen die Corona-Pandemie: warum Schweden alles richtig machen könnte

Strategie der Schweden gegen die Corona-Pandemie: Chefepidemiologe Tegnell will, dass sich die Coronavirus-Infektion langsam ausbreitet, ohne die Spitäler zu überfordern.

Nationale und internationale Fachleute (Virologen, Epidemiologen, Mediziner) stellen den Ansatz in Frage, wie Schweden die Corona-Pandemie erfolgreich bekämpfen will. Manche sehen die hohe Zahl der Covid-19-Todesopfer als Beweis für das verfehlte Krisenmanagement der schwedischen Regierung. Sie verweisen dabei auf andere skandinavische Staaten, die deutlich niedrigere Sterblichkeitsraten haben. Schuld an den höheren Opfer-Zahlen soll die Smart-Distancing-Taktik des Schwedischen Staatsepidemiologen Nils Anders Tegnell sein.

 

Smart-Distancing in der Corona-Pandemie in Schweden

Einerseits soll Abstand gehalten werden, andererseits aber soll dieses Abstandhalten freiwillig eingehalten werden und nicht durch staatlichen Zwang. „Das Wichtigste, was wir jetzt machen können, ist zuhause zu bleiben, wenn wir uns krank fühlen. Das sagen wir jeden Tag und werden das weiter tun, solange die Epidemie anhält, denn das ist die Grundlage für alles, was wir tun,“ betont Tegnell.

Tegnell empfahl seiner Regierung, die Schulen nicht zu schließen. Denn es gäbe aus keinem anderen Land Daten, dass offene Schulen an der Verbreitung von COVID-19 Einfluss nehmen.

Zudem meint der schwedische Arzt und ehemalige Mitarbeiter der WHO, dass nur solche Maßnahmen geeignet wären, die die Bevölkerung auch über einen längeren Zeitraum  freiwillig mitträgt. Denn ansonsten schwindet der Rückhalt bei den Menschen.

Hilfreich ist in Schweden auch die geringe Bevölkerungsdichte und die hohe Zahl an Ein-Personen-Haushalten. Außerdem haben die Menschen sehr viel Vertrauen in ihre Gesundheitsbehörden, weshalb die Freiwilligkeit den staatlichen Zwang problemlos ersetzt.

 

Corona-Zahlen und Fakten in Schweden

Die Behörden in Schweden sehen sich dem Höhepunkt des Ausbruchs sehr nahe, das Gesundheitssystem sei bislang mit der Corona-Pandemie gut fertig geworden sein, die Zahlen betragen aktuell 13.216 Infizierte und 1400 Corona-Todesopfer (Stand 17. April 20).

Umfragen zufolge unterstützen viele Schweden, etwa 80 Prozent, weiterhin die Strategie der Regierung, nämlich die Aufforderung, dass die Bürger persönlich Verantwortung für die Einhaltung der Richtlinien zur physischen Distanzierung übernehmen sollen anstatt seitens der Politik strikt vorgegebene Regeln zu befolgen.

Aktuell arbeitet in Schweden ungefähr die Hälfte der Arbeitnehmer von zu Hause aus. Die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist in Stockholm um 50% gesunken. Die Straßen der Hauptstadt sind etwa 70% weniger belebt als zuvor.

Allerdings können die Menschen immer noch ungebremst einkaufen, in Restaurants gehen oder zum Friseur, um sich die Haare schneiden zu lassen. Und Kinder unter 16 Jahren gehen nach wie vor in Schule.

 

Herdenimmunität auf schwedisch

Oftmals liest man falsch, dass die Schweden eine rasche Herdenimmunität anstreben. Und dass sie das früher oder später wie die Niederlande und Großbritannien aufgrund der hohen Todeszahlen auch korrigieren werden müssen. Doch das ist so nicht richtig: Die schwedische Regierung hat die Strategie, eine schnelle Herdenimmunität gegen das Virus zu erreichen, von Anfang an abgelehnt.

Chefepidemiologe Anders Tegnell beschreibt seine Strategie als den Versuch, „eine langsame Ausbreitung der Infektion zu ermöglichen und dabei das Gesundheitssystem nicht zu überfordern.“ Tegnell betont, dass es entscheidend ist, dass ein Teil der Bevölkerung in absehbarer Zeit Immunität erlangt.

 

Landesinterne Kritik

Die Strategie von Tegnell wurde auch von einigen Wissenschaftlern des Landes kritisiert. Eine Gruppe von 22 Ärzten, Virologen und Forschern, veröffentlichte einen offenen Brief an die Gesundheitsbehörden. Doch Tegnell blieb gelassen. Er bestritt die dem Brief zugrunde liegenden Zahlen.

Die höheren Zahlen zu den Todesopfern im Vergleich mit den anderen skandinavischen Ländern begründete Tegnell damit, dass „leider eine große Ansteckungswelle in Altenpflegeheimen erfolgte, was so in den anderen Nachbarländern nicht der Fall war.“ Hier gab es vor allem Probleme bei den Vorbereitungen und den Schutzausrüstungen, was mittlerweile auch offiziell bestätigt wurde.

Jedenfalls hat Tegnell wiederholt betont, dass sich die Staaten der Welt mit dem Coronavirus auf unbekanntem Terrain bewegen. Er argumentiert, dass Schweden zwar kurzfristig mehr Infektionen haben könnte. Allerdings wird das Land nicht mit dem Risiko eines enormen Infektionsanstiegs bedroht sein. Das soll bei vielen anderen Länder so sein, wenn sie die strengen Sperren lockern.

Übrigens betonen ja auch viele bekannten Experten aus den USA, China, Großbritannien und Deutschland – von Anthony Fauci bis Christian Drosten –, dass viel Fragen derzeit einfach nicht zu beantworten sind.

Zum Beispiel, ob Kinder eine ausreichend Viruslast erzeugen können, um andere anzustecken. Oder verschiedene Fragen zu Schmierinfektionen, zum Verhalten von SARS-Cov-2 in der Luft, die Effektivität unterschiedlicher Masken, etc.

Was sicher ist: Abstand halten hilft auf jedenfalls und verhindert am besten eine Infektion. Und hierzu empfiehlt übrigens das CDC (US-Seuchenbehörde) 6 Fuß, sprich 1,80 Meter Plus, also besser 2 Meter.

 

Mitgehangen, mitgefangen?

Obwohl die langfristigen Auswirkungen nicht vorhersehbar sind, erwarten Experten, dass auch die schwedische Strategie die Wirtschaft des Landes in diesem Jahr nicht mehr retten wird können. Finanzministerin Magdalena Andersson sagte kürzlich, dass das BIP im Jahr 2020 um 10% schrumpfen und die Arbeitslosigkeit auf 13,5% steigen könnte.

In Österreich und Deutschland erwartet man übrigens einen BIP-Rückgang von 7%, so unsicher diese Schätzungen auch sein mögen.
 

Tegnell nutzt seine Erfahrungen von der die Ebola-Epidemie für die Strategie gegen die Corona-Pandemie in Schweden.

Der 63-Jährige schwedische Epidemiologe ist mit einer holländischen Public-Health-Expertin verheiratet und hat drei erwachsene Töchtern, eine Technikerin, eine Ärztin und eine Krankenschwester.

Im Jahr 1995 war Tegnell während des Ebola-Ausbruchs für die WHO im Kongo. Dort musste er mitansehen, wie man wegen der Ansteckungsgefahr viele medizinischen Behandlungen, Operationen, nicht mehr durchführte. Durch diesen abgespeckten Krankhausbetrieb starben dann sehr viele Menschen.

Nicht zuletzt deswegen sieht Tegnell in schnellen, unüberlegten Einschränkungen eine große gesundheitliche Gefahr für die Bevölkerung.
 

Deutschlan & Östereich: Kollateralschäden, steigende Kritik und Unruhe

In den Deutschland und Österreich wird die Kritik an den strikten Maßnahmen sowie den großen Einschränkungen der Grundrechte immer lauter.

Kritiker sagen, dass die Politik bislang zu wenig die Kollateralschäden des Lockdowns berücksichtigt: Millionen von Arbeitslosen, hunderttausende Pleiten, körperliche oder sexuelle Gewalt an Frauen und Kindern, höhere Raten an Vereinsamung mit Depressionen, Angstzuständen und Suiziden, die mangelnde Versorgung chronisch Kranker und der Aufschub von dringend notwendigen Operationen.

Auch die höheren Raten an Menschen mit metabolischem Syndrom (Bluthochdruck, Übergewicht / Adipositas / Fettleibigkeit, Diabetes, hohe Blutfettwerte …) sowie anscheinende Rückgang bei Herzinfarkten nimmt bedrohliche Maße an. Oder Entwicklungen zu Schlaganfällen, Suiziden, chronisch Kranken, Schwangeren, Schmerzpatienten, Krebspatienten, Drogensüchtigen, Menschen mit Demenz etc., wie Martin Sprenger, Public-Health-Experte aus Graz, im Magazin »addendum« beschreibt.

Das sieht auch Stefan Willich, Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité in Berlin ähnlich. Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen müsse stimmen. Man dürfe nicht Massenarbeitslosigkeit oder die spürbare Zunahme von Todesfällen durch andere Krankheiten riskieren, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, betont Willich in einem Online-Statement (»Der Aktionär«).

Zumindest gegen diese negativen Begleiterscheinungen des Lockdowns scheint die schwedische Strategie jedenfalls besser geeignet zu sein. Deswegen betont Tegnell auch immer wieder die massiven Folgen eines Lockdowns für eine Gesellschaft. Wirtschaftliche, soziale, psychische. Abgesehen vom Erhalt der Freiheit der Menschen.

Der große Mehrheit in den sozialen Netzwerken hat jedenfalls ihre Entscheidung schon getroffen. Sie jubelt dem coolen schwedischen Tegnell zu und übertönt deutlich so manche Hassmails und Postings.




Quellen: Aftonbladet;  The Guardian

 

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