Freitag, April 19, 2024

Schlaganfall – Thrombektomie empfohlen

Volkskrankheit Schlaganfall: Thrombektomie als sicheres und wirksames Verfahren bestätigt, Einsatz „mit Augenmaß“ gefordert.

 

Rund 1,3 Millionen Schlaganfall-Neuerkrankungen pro Jahr sind in Europa zu verzeichnen – bei steigender Tendenz. In der Akuttherapie etabliert sich zunehmend wissenschaftliche Evidenz für die Thrombektomie, die mechanische Entfernung von Blutgerinnseln, als sicheres und effizientes Verfahren. Für welche Patientengruppen die neue Methode geeignet ist und welche aktuellen Einsichten die Schlaganfall-Forschung in anderen Bereichen liefert, diskutieren Experten beim Europäischen Neurologiekongress in Berlin.

Der Schlaganfall gehört zu  jenen neurologischen Leiden, die sich zur regelrechten Volkskrankheit entwickeln: Mehr als 8,2 Millionen Betroffene leben in der EU insgesamt, jährlich sind rund 1,3 Millionen Neuerkrankungen zu verzeichnen – schon wegen der demographischen Entwicklung bei steigender Tendenz, denn die Erkrankung tritt im Alter häufiger auf. „Die Medizin macht große Fortschritte bei Prävention, Therapie und Rehabilitation des Schlaganfalls, die Krankheit stellt uns aber immer noch vor große Herausforderungen“, sagte EAN-Vizepräsident Prof. Franz Fazekas (Medizinische Universität Graz) auf dem 1. Kongress der European Academy of Neurology (EAN) in Berlin, wo von 20. bis 23. Juni mehr als 6.500 Experten aus aller Welt aktuelle Trends ihres Fachgebietes diskutieren.

 

Gute Wirksamkeit und Sicherheit für ausgewählte Patientengruppen

„Eine der wichtigsten aktuellen Entwicklung in der Akuttherapie des Schlaganfalls ist die zunehmende wissenschaftliche Evidenz, die uns zur mechanischen Entfernung von Thromben aus Gehirngefäßen vorliegt“, berichtete Prof. Fazekas. Kürzlich publizierte Studienergebnisse belegen nicht nur eine hohe Wirksamkeit und Sicherheit der Thrombektomie, sondern erstmals auch ihre Überlegenheit gegenüber der Standard-Therapie mittels Thrombolyse bei bestimmten Patientengruppen.
„Das Verfahren ist vor allem bei großen Thromben sinnvoll, die sich unter medikamentöser Therapie nicht oder nur zum Teil auflösen lassen, und die große Hirnversorgungsgefäße verschließen“, so Prof. Fazekas. „So erfreulich die Fortschritte durch die neue Methode sind, so klar ist es aber, dass auch die mechanische Thrombektomie nicht bei allen Betroffenen die Durchblutung wieder herstellen kann. Außerdem ist eine Gefäßeröffnung wirkungslos, wenn das Gehirngewebe bereits zugrunde gegangen ist. Die Kunst wird es sein, das Verfahren bei aller Euphorie mit dem richtigen Augenmaß bei jenen Patienten einzusetzen, die davon profitieren können, und für diese komplexe Form der Behandlung entsprechende Strukturen und eine adäquate Ablauforganisation zu schaffen“.

 

Empfehlungen der europäischen Fachgesellschaften

Genau zu diesem Zweck wollen sich die relevanten europäischen Fachgesellschaften jetzt auf eine gemeinsame Empfehlung zur Thrombektomie verständigen, die sicherstellen soll, dass das innovative Verfahren zum größtmöglichem Patientennutzen eingesetzt wird. Aus den bisherigen Diskussionen geht hervor dass die Thrombolyse nach wie vor die am breitesten einzusetzende Form der Behandlung des akuten ischämischen Schlaganfalls bleibt. Bei Verschlüssen großer Hirngefäße sollte sie aber unter bestimmten Voraussetzungen durch den Versuch einer Thrombektomie Ergänzung finden. „Wenn Kontraindikationen zur systemischen Thrombolyse vorliegen, ist diese bei Verschlüssen großer Gefäßen zweifellos als Therapie der ersten Wahl anzusehen“, fasst Prof. Fazekas einige der wahrscheinlichen Empfehlungen zusammen. „Ein hohes Alter allein sollte kein Grund sein, Patienten das Verfahren vorzuenthalten. Bei bereits stark vorgeschädigtem Gehirn, sehr großen Infarkten und schwerer Erkrankung auch anderer Organsysteme erscheint ein Einsatz allerdings nicht zielführend.“
Was die verfügbaren Technologien betrifft, so liegen positive Daten zur Wirksamkeit vor allem für die Stent Retriever vor. Der Einsatz anderer Systeme ist situationsabhängig und im Einzelfall von den Behandlern zu beurteilen. Stent Retriever sind eine neuere Generation von Kathetern, bei denen feine Gitterröhrchen im Hirngefäß platziert und dann gemeinsam mit dem Thrombus herausgezogen werden. „Wichtig für das Outcome ist in jedem Fall der Zeitfaktor. So sollte eine Thrombektomie innerhalb von maximal drei bis sechs Stunden zu erfolgen. Die Behandlungsresultate sind umso besser, je früher der Eingriff durchgeführt wird“, so Prof. Fazekas.
Entscheidend für den Erfolg ist auch die multidisziplinäre Zusammenarbeit in der Akuttherapie. Die Entscheidung über den Einsatz der Thrombektomie sollte immer im Team fallen, dem zumindest ein klinischer und ein interventioneller Schlaganfallspezialist angehören sollen. In vielen Ländern Europas wird dieser Teameinsatz von Neurologen koordiniert, da sie die entsprechende differentialdiagnostische Abklärung und sonstigen notwendigen therapeutische Maßnahmen verantworten. „Nicht nur die klinische, interventionelle oder neuroanästhetische Erfahrung  sind für die erfolgreiche Thrombektomie maßgeblich, sondern auch die Interpretation der Bildgebung spielt eine wichtige Rolle, zum Beispiel, wenn Gefässverschluß, Infarktgröße  oder die Größe der Penumbra abgeschätzt werden sollen, um die geeigneten Patienten zu finden“, so Prof. Fazekas. Neben der Multidisziplinarität spielt auch der Faktor Spezialisierung eine Rolle: Thrombektomien sollten nur in spezialisierten Schlaganfall-Zentren zum Einsatz kommen. Hier fordern die Experten von der Gesundheitspolitik, für eine flächendeckende Versorgung mit solchen Zentren zu sorgen, damit Schlaganfallpatienten im Bedarfsfall zeitnahen Zugang zu einer Thrombektomie haben.

 

Thrombolyse etabliert sich Europa-weit

Auch angesichts der neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der mechanischen Thrombenentfernung bleibt die intravenöse Thrombolyse (IVT) nach wie vor ein zentrales Instrument in der Akutbehandlung des Schlaganfalls. „Ein wichtiger neuer Trend ist hier, dass wir mit der Thrombolyse immer mehr Patientengruppen behandeln und insbesondere in höhere Alterskategorien vordringen“, betonte Prof. Fazekas. „Das ist eine Entwicklung, die man mit Sorgfalt und Bedacht betreiben muss.“
Wie eine beim EAN präsentierte portugiesische Studie zeigt, werden die therapeutischen Grenzen in die verschiedensten Richtungen ausgereizt. Die Ergebnisse legen nahe, dass Patienten vereinzelt auch dann von einer intravenösen Thrombolyse profitieren können, wenn relative Kontraindikationen wie zum Beispiel Krebs, Demenz oder ein rezenter Herzinfarkt vorliegen. „Eine vorsichtige Weiterentwicklung für bestimmte Patientengruppen wird die Forschung in der nächsten Zeit sicher weiter beschäftigen“, so Prof. Fazekas.
Die intravenöse Thrombolyse hat sich inzwischen europaweit etabliert, und zwar durchaus erfolgreich, wie eine französische-serbische Vergleichsstudie zeigt, die beim Kongress der EAN vorgestellt wurde: Untersucht wurde der Therapieerfolg von IVT bei rund 250 Schlaganfallspatienten mit Vorhofflimmern in Lille und Belgrad. Trotz der unterschiedlichen sozioökomischen Voraussetzungen der beiden Staaten bringt das Verfahren in beiden Ländern und Zentren vergleichbar gute Behandlungsergebnisse.  Die Patienten in Belgrad waren im Schnitt um zehn Jahre jünger, häufiger Raucher und häufiger männlichen Geschlechts. Prof. Fazekas: „Es ist erfreulich, wenn die Behandlungsqualität in sehr unterschiedlichen Ländern vergleichbare Werte aufweist, ein Anliegen, das wir in der EAN in allen Bereichen verfolgen.“

 

Implantierte Event-Recorder entdecken Vorhilfflimmern

Wichtige Entwicklungen gibt es auch in der in Prävention des Schlaganfalls. Eine der häufigsten Ursachen eines schweren Schlaganfalls ist das Vorhofflimmern (VHF). Seine Identifizierung ist von hoher Bedeutung, damit Patienten einer blutverdünnenden Behandlung zugeführt werden können, wobei die neuen oralen Antikoagulantien (NOAKs) erweiterte Behandlungsmöglichkeiten ermöglicht haben. Neuere Daten weisen darauf hin, dass intermittierendes VHF wahrscheinlich viel öfter einen Schlaganfall auslöst als bisher vermutet wurde.
Intermittierendes VHF bei Schlaganfall-Patienten zu entdecken war bisher oft nicht einfach. weil sie im EKG leicht übersehen werden können. Neue Überwachungssysteme bergen da großes Potenzial, wie eine beim Kongress in Berlin präsentierte US-Studie zeigt. Prof. Fazekas: „Tatsächlich litten in dieser Untersuchung zehn der 58 Patienten nach kryptogenem Schlaganfall an Vorhofflimmern. Der Einsatz von implantierbaren Event-Recordern ist dazu geeignet, die gefährlichen Herzrhythmusstörungen bei Patienten nach einem kryptogenen Schlaganfall zu erkennen.“ Auch das Infarktmuster, das heißt ischämische Läsionen in mehreren Gefäßversorgungsgebieten des Gehirns, kann den indirekten Hinweis auf ein kardio-embolisches Geschehen geben. Parallel dazu bemühen sich Untersuchungen jene Faktoren zu identifizieren, die einen Zusammenhang mit Vorhofflimmern gerade bei embolischem Schlaganfall unbekannter Quelle (ESUS) besonders wahrscheinlich machen. Eine ebenfalls auf dem EAN-Kongress präsentierte Studie französischer Forscher berichtet diesbezüglich über spezielle Befunde aus der Echokardiographie, die diesem Zweck dienen könnten.

 

Quellen: BrainFacts.org, Brain Disease in Europe, November 2013; Olesen et al.: The economic cost of brain disorders in Europe. European Journal of Neurology 2012, 19: 155-16; EAN-Abstracts: Padjen et al, Effect of intravenous thrombolysis on stroke patients with atrial fibrillation treated in Lille (France) and Belgrade (Serbia); Alves et al, Intravenous Thrombolysis in “grey areas”; Seiler et al, Surveillance for Atrial Fibrillation in patients with cryptogenic stroke using an implantable loop recorder in a community hospital setting : Real world validation of Crystal AF; Sabben et al, Predictors of new onset atrial fibrillation after an ischemic stroke.

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