Mittwoch, April 24, 2024

Rechtssicherheit für Diabetespatienten im Straßenverkehr

Die neue Leitlinie „Diabetes und Straßenverkehr“ bringt neben dem medizinischwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn auch Rechtssicherheit.

Die S2e-Leitlinie Diabetes und Straßenverkehr bringt nicht nur medizinischwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, sondern dürfte auch dazu beitragen, die Sicherheit im Straßenverkehr zu verbessern sowie Menschen mit Diabetes Rechtssicherheit bieten, vor unnötigem Verlust der Fahrerlaubnis und damit verbundener sozialer Ausgrenzung, beruflichem Niedergang und Diskriminierung schützen.

Das Führen von Kraftfahrzeugen und die Teilnahme am Straßenverkehr sind für viele Menschen elementarer Bestandteil des sozialen und beruflichen Lebens. Nicht selten wird die Fahreignung von Diabetespatienten jedoch von Fahrerlaubnisbehörden oder Begutachtungsstellen infrage gestellt.

Die „Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen“ hat gem. Anlage 4a zu § 11 FeV auf Grundlage der Begutachtungsleitlinien für Kraftfahreignung (Hrsg.: Bundesanstalt für Straßenwesen, BASt) zu erfolgen. Diese Begutachtungsleitlinien – an deren derzeitiger Fassung der Ausschuss Soziales der DDG ebenfalls beteiligt war – dienen der Umsetzung der EU-Führerscheinrichtlinie und sind daher ergebnisorientiert angelegt. Sie haben jedoch nicht den Anspruch, den Stand der medizinischen Forschung und Wissenschaft stets aktuell zu repräsentieren.

Aus diesem Grund sind Abweichungen von den Begutachtungsleitlinien möglich: Werden sie vom Arzt angewandt, bedarf es keiner expliziten Begründung. Wird von den Leitlinien abgewichen, z. B. weil Untersuchungen zu Zeiten der vorherigen Begutachtungsleitlinien begonnen haben und nach diesen fortgesetzt werden sollen oder ein Einzelfall fachlich anders zu würdigen ist, ist dies möglich, bedarf aber in der Regel einer detaillierten Begründung.

Die wissenschaftliche S2e-Leitlinie der DDG fasst nun den Stand der medizinischen Wissenschaft sowie aktuelle Erkenntnisse zum Thema Diabetes und Fahreignung zusammen. Auf evidenzbasierten Grundlagen bzw. auf Expertenkonsens werden konkrete Praxisempfehlungen und Hinweise gegeben, die zugleich für Ärzte den Rahmen definieren, innerhalb dessen sie „lege artis“ handeln. Vor diesem Hintergrund schafft die S2e-Leitlinie Rechtssicherheit für Ärzte und Patienten:

Nachdem es bis dahin keine vergleichbar detaillierten, anerkannten wissenschaftlichen Grundsätze zur Bewertung der Fahreignung gab, bestand eine erhebliche haftungsrechtliche Grauzone für Ärzte und Behandlungspersonal insbesondere in Bezug auf die Inhalte der Aufklärung und konkrete Handlungsvorgaben.

Im Falle eines unterzuckerungsbedingt verursachten Unfalls muss damit gerechnet werden, dass die Behandlungsleistung bzw. die Aufklärung des behandelnden Arztes von Regulierern oder Unfallgegnern kritisch hinterfragt wird – es drohen hier nicht unerhebliche Risiken. Umgekehrt kann eine vorschnelle bzw. medizinisch nicht zwingend indizierte Verneinung der Fahreignung ebenfalls zu erheblichen Schadensersatzforderungen führen, insbesondere im Kontext der Berufsausübung der Patienten.

Da es bislang allerdings keine klar definierten bzw. wissenschaftlich abgesicherten Handlungskorridore gab, bewegten sich Behandler mitunter in einer juristischen Grauzone.

Die Leitlinie der Fachgesellschaft bringt den Behandlern nun fachliche und juristische Sicherheit und zeigt die fachlich gebotene Vorgehensweise auf. Ein Arzt, der sich an diese wissenschaftlich abgesicherten Empfehlungen hält, handelt grundsätzlich lege artis und muss keine Haftung befürchten.

Auch für Patienten bringt die Leitlinie zusätzliche Rechtssicherheit: Sie bietet einen verlässlichen Beurteilungs- und Bewertungsmaßstab, anhand dessen die fachliche Richtigkeit und die sorgfaltsgemäße Erstellung eines Fahreignungsgutachtens befriedigend überprüft werden können. Denn immer wieder ist zu beobachten, dass Gutachten nicht mit der gebotenen Sorgfalt bzw. nicht unter Berücksichtigung der Vorgaben erstellt werden und Patienten infolgedessen dann die Fahrerlaubnis verlieren. Nun ist es deutlich einfacher, gegen ein fehlerhaftes Gutachten vorzugehen bzw. einen deswegen drohenden Verlust der Fahrerlaubnis abzuwenden.

Schließlich kann die Leitlinie auch zu einer weiteren Erhöhung der Verkehrssicherheit beitragen: Durch die klaren Empfehlungen können Risiken durch nicht fahrgeeignete Patienten vermieden werden, da Ärzte nun auf gesicherter wissenschaftlicher Grundlage ein „ärztliches Fahrverbot“ aussprechen und detaillierte Verhaltensvorgaben machen können, ohne Haftungsrisiken befürchten zu müssen.

Fallbeispiel: Rechtssicherheit für Patienten

Patient (Diabetes Typ2, medikamentös behandelt), dauerhaft deutlich überhöhter Langzeitzuckerwert (HbA1c: 9,2%).

Durch vom Patienten aus Konzentrationsmangel verursachten Verkehrsunfall wird die Diabetes-Erkrankung bekannt. Die Fahrerlaubnisbehörde fordert daraufhin ein verkehrsmedizinisches Gutachten gem. § 11 FeV.

Der Gutachter kommt zum Schluss, dass aufgrund des deutlich überhöhten HbA1c keine Kraftfahreignung mehr vorliege. Er stützt sich hierbei u.a. auf die Begutachtungsleitlinien (BGLL) der BASt, wonach hyperglykämiebedingt „im Einzelfall die Kraftfahreignung eingeschränkt oder auch nicht mehr gegeben sein kann“.

Bis zur S2e-Leitlinie: Der Patient hatte kaum eine Möglichkeit, diese Expertise erfolgreich anzugreifen, denn die BGLL überlasst die Konkretisierung weitgehend dem Gutachter. Mangels wissenschaftlich abgesicherten Empfehlungen zu dieser Fragestellung gab es daher einen Graubereich, in dem sich der Gutachter bewegen konnte.

Aktuell: Das Gutachten muss nun auf dem in der S2e-Leitlinie kompilierten Stand der Wissenschaft basieren. Abweichungen müssen vom Gutachter begründet werden, ansonsten ist die Expertise fachlich fehlerhaft.

Ergebnis: ein erhöhter HbA1c-Wert bedeutet nicht automatisch, dass keine Fahreignung besteht.


Fallbeispiel: Rechtssicherheit für Arzt

Patient (Diabetes Typ2, medikamentös behandelt), dauerhaft deutlich überhöhter Langzeitzuckerwert (HbA1c: 9,2%).

Durch vom Patienten aus Konzentrationsmangel verursachten Verkehrsunfall wird die Diabetes-Erkrankung bekannt.

Der behandelnde Arzt wird nun auf Haftung wegen unterlassener Sicherungsaufklärung in Anspruch genommen. Im Gerichtsverfahren kommt ein Gutachter zum Schluss, dass der Arzt aufgrund des deutlich überhöhten HbA1c von einer mangelnden Kraftfahreignung ausgehen und daher ein „ärztliches Fahrverbot“ hätte aussprechen müssen. Er stützt sich hierbei u.a. auf die Begutachtungsleitlinien (BGLL) der BASt, wonach hyperglykämiebedingt „im Einzelfall die Kraftfahreignung eingeschränkt oder auch nicht mehr gegeben sein kann“.

Bis zur S2e-Leitlinie: Der Arzt hätte erhebliche Schwierigkeiten, sich durch Gegengutachten zu entlasten. Mangels wissenschaftlich abgesicherten Empfehlungen zu dieser Fragestellung gab es einen Graubereich, in dem sich der Gutachter bewegen konnte. Die Entscheidung des Gerichts hing letztlich davon ab, welcher Gutachter überzeugen konnte.

Aktuell: Das Gutachten muss nun auf dem in der S2e-Leitlinie kompilierten Stand der Wissenschaft basieren; diese fachlich abgesicherten Erkenntnisse müssen von Gerichten auch berücksichtigt werden.

Ergebnis: ein erhöhter HbA1c-Wert bedeutet nicht automatisch, dass keine Fahreignung vorliegt.


Quelle:

Endlich Rechtssicherheit: Die Leitlinie aus juristischer Sicht RA Oliver Ebert, Koordinator und Mitautor der Leitlinie „Diabetes und Straßenverkehr“, Vorsitzender des Ausschusses Soziales der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG)

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