Donnerstag, März 28, 2024

Psychosomatische Orthopädie – Psychosomatik des Bewegungsapparats

Junge, wenig bekannte Form der Psychosomatik: Die psychosomatische Orthopädie beschäftigt sich mit der Psychosomatik des Bewegungsapparats.

Der Begriff Psychosomatik wurde erstmals vom Leipziger Psychiater Johann Christian August Heinroth 1818 in seinem 2-bändigen Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlung (es gilt als wissenschaftliches Ursprungswerk der Psychiatrie, wobei Heinroth eine ganzheitliche Auffassung vertrat) verwendet. Heinroth meinte, daß auch nicht bewältigte Konflikte eine Reihe von Störungen und Krankheiten hervorrufen können. Wobei seelische Ursachen bei zahlreichen Erkrankungen wie Asthma, Neurodermitis, entzündliche Darm­erkrankungen (wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa) oder Reizdarmsyndrom heutzutage anerkannt sind und dementsprechend behandelt werden. Die Psychosomatik des Bewegungsapparats in der Orthopädie und Rheumatologie hingegen ist noch jung und relativ unbekannt. Die Kenntnisse darüber sind nach wie vor nicht allen Spezialisten – wie konservativen Orthopäden und Rheumatologen – zugänglich.

 

Wie der Begriff Psychosomatik der ­Bewegungsorgane entstanden ist

Seelische Ursachen bei zahlreichen Erkrankungen wie Asthma, Neurodermitis, entzündliche Darm­erkrankungen (wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa) oder Reizdarmsyndrom sind heutzutage anerkannt und werden dementsprechend behandelt. Die Psychosomatik der Bewegungsorgane hingegen ist noch jung und relativ unbekannt. Die Kenntnisse darüber sind nachwievor nicht allen Spezialisten – wie konservativen Orthopäden und Rheumatologen – zugänglich.



Hier ist – auch aufgrund der dramtischen Krankheitssituation in den Industrienationen – ein Umdenken gefordert. Denn etwa vier von fünf ­Menschen leiden dort zumindest ein Mal in ihrem Leben an Schmerzen an den Bewegungsorganen.

Unmengen von Antirheumatika und Analgetika werden verordnet, um die Beschwerden zu lindern. Doch um die Schmerzen dauerhaft zu vertreiben, sind die Möglichkeiten meist sehr beschränkt.

Mit diesen Erfahrungen therapeutischer Begrenztheit und beschränkten Möglichkeiten verbunden mit Gefühlen einer Insuffizienz und Ohnmacht sah sich in den 1960er Jahren auch die deutsche Orthopädin Dr. Hildegund Heinl konfrontiert.

Dr. Heinl hatte ­beobachtet, wie sich das klinische Bild der Erkrankungen in ihrer Praxis nach den Vernarbungen der Kriegswunden ge­ändert hatte. Zunehmend musste sie Patienten mit Funk­tionsstörungen und Schmerzsyndromen (beispielsweise mit Fibromyalgie) behandeln, man sprach von »nicht entzündlichen Rheumatismus«.

Dr. Heinl musste beobachten, wie das diagnostisch-therapeutische Instrumentarium und die ihr vertraute konservative Orthopädie versagte. Sie erkannte einen psychischen Zusammenhang und entdeckte und entwickelte auf der Suche nach einem für ihre ­Arbeit geeigneten Psychotherapieverfahren – gemeinsam mit Hilarion Petzold und Johanna Sieper– die »Integrative Gestalttherapie«. Mit den theoretischen Konzepten des Leibes konnte in der Folge eine konsistente Psychosomatik der Bewegungs­organe entstehen.

 

Erste Erfahrungen in Orthopädie und Rheumatologie mit der Psychosomatik des ­Bewegungsapparats

Ihre erste Erfahrung machte Dr. Heinl mit einem 62jährigen Patienten, der an ihrer orthopädischen Abteilung wegen therapieresistenter Beschwerden im Rücken stationär aufgenommen worden war, nachdem trotz intensiver konventioneller Behandlung sich die Schmerzen nicht gebessert hatten.



Der verzweifelte Patient schilderte die Geschichte seiner Schmerzen in allen Einzelheiten: seit 25 Jahren – seit seiner Rückkehr aus der russischen Gefangenschaft – litt er jeweils im Winter an starken Schmerzen, die im Sommer wieder geringer wurden. In der akuten Situation hatten die Beschwerden nun derart an Intensität zugenommen, sodass sich der Patient kaum noch rühren konnte und in Krankenstand ging.

Im weiteren therapeutischen Gespräch erzählte der Schmerzpatient seine Erlebnisse aus der russischen Gefangenschaft: von Hunger und Kälte, von existentieller Bedrohung. Als er sich diese Gefangenschaftssituationen in Erinnerung rief, begann sein Körper heftig zu zittern und unerträgliche Rücken- und Gliederschmerzen stellten sich ein.

Ein Ausdruck von Panik und Todesangst zeichneten sein Gesicht. Er durchlitt körperlich und seelisch erneut die schlimmen Erfahrungen, die längst ­vergessen schienen.

Dr. Heinl hüllte ihn in eine Decke und unter Wärme- und ­Ruhesuggestion sowie stützender Berührung klangen die körperlichen Symptome langsam wieder ab.

Die medikamentöse Therapie wurde in Folge stark reduziert, die physikalische Wärmetherapie wurde intensiviert und alle Behandlungen, die Vorstellungen von Gewalt oder Zwang in ihm auslösten (wie Unterwassermassage oder Extensionen) wurden völlig abgesetzt.

Nach 14 Tagen konnte der Patient das Krankenhaus nahezu schmerzfrei verlassen, nach drei Jahren stellte sich anhaltende Beschwerdefreiheit ein (4).

 

Psychosomatische Orthopädie formuliert

Vor dem Hintergrund derartigen Begegnungen und Erfahrungen formulierte Dr. Heinl im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte die neue Psychosomatik in der Orthopädie. Die Bewegungsorgane und der Bewegungsapparat hat demnach nicht nur die Funktion als Stütz- und Bewegungs-Organ im körperlichen Sinn. Denn sie sind nicht autonom und getrennt von der seelischen Befindlichkeit zu betrachten, sondern in enger Wechselwirkung mit ihr verwoben.



Im Grunde genommen sind sie Schutzmantel für die lebens­notwendigen und lebenserhaltenden Organe. Durch sie erfahren wir die Leibgrenzen zwischen der Innen- und Außenwelt. Sie vermitteln und ermöglichen uns den Kontakt und den Bezug zum Du, zum Euch, zu den Dingen der Natur und zur Welt. Weiter drücken sie unsere augenblickliche Befindlichkeit aus, sie teilen unsere geheimen Wünsche, Gedanken und Ängste mit. Zudem sind sie Bewahrer unserer realen Existenz und unserer Autonomie.

Schließlich konfrontieren sie uns mit unseren verdrängten Konflikten, unseren Vermeidungen, den unterdrückten Bedürfnissen, Gefühlen und ­Ängsten, sowie unserer Haltung zur Lebenswelt („Störungen in der Arbeitswelt als Ursache psychosomatischer Schmerzsyndrome“, Aufsatz in : Psychosomatik in der Orthopädie, Herausgeber H. G. Willert, Hans Huber, 1991).

 

Fallbeispiel zu Schmerzen und »Integrative Gestalttherapie«

Die Patientin leidet seit Jahren an Schmerzen im Bereich der gesamten Wirbelsäule, besonders betroffen ist die Halswirbelsäule und Nackenmuskulatur, sie klagt über Schmerzausstrahlung in beide Arme.

Ein Cervicobrachial-Syndrom wurde vom behandelnden Orthopäden diagnostiziert, röntgenologisch findet sich eine deutliche Osteochondrose C5 bis C7, was eine ausreichende, nachweisbare Erklärung für die Beschwerden gibt. Der Arzt kann die Erkrankung schulmedizinisch diagnostizieren und hat vorweg keinen Grund, einem psychosozialen Aspekt in seine Überlegung miteinzubeziehen. Der erfolglose Therapie-Verlauf sollte den Experten eigentlich darauf hin weisen (nach Strasser 1982) – doch der Arzt übersieht dies.

Im Laufe der Zeit werden die Beschwerden der Patientin immer stärker, sie wird wegen anhaltender Therapieresistenz zur Physikotherapie stationär auf­genommen. Bei der Anamnese zeigt sich Resignation und Traurigkeit in der Stimme der Patientin, die behandelnde Ärztin motiviert die Patientin, die Beschwerden möglichst detailliert zu schildern. Die Schmerzen habe sie schon sehr lange, immer wiederkehrend – aber sie waren nie so stark und unerträglich, wie in den letzten beiden Jahren.

Fragen zu Veränderungen des familiären oder beruflichen Alltags werden verneint, Probleme sind der Patienten ebenfalls nicht bewusst.

„Die Schmerzen kommen einfach von der Arbeit, durch dieses ständige Heben und Tragen werden sie immer schlimmer …“

Die Patientin ist Putzfrau in einer Schule, wobei sie im Anamnesegespräch betont, wie ungern sie dort arbeitet – nicht zuletzt wegen der Schüler, die ja heutzutage keine Erziehung, keinen Respekt vor den Erwachsenen mehr hätten.  Verbitterung, Zorn und Resignation zeichnen dabei ihr Gesicht. Gleichzeitig zieht sie die Schultern hoch, schüttelt den Kopf – so als versuche sie, etwas Dunkles aus ihrem Gesichtsfeld zu wischen. Es folgt ein tiefes Seufzen, dann Schweigen.

Die Frage nach eigenen Kindern, wird ebenfalls mit diesem Kopfschütteln verneint. Noch einmal verstärkt sich das Seufzen, und dann beginnt die Patientin langsam und stockend zu erzählen:



Als Neugeborenes wurde sie von ihren Eltern weggelegt und ist als Pflegekind in einer fremden Familie aufgewachsen – vernachlässigt gegenüber den anderen Kindern dort. Wie sehr sie sich in der Pubertät auf das Selbständig-Werden gefreut habe, von diesem zu Hause fortzukommen, das nie Heimat für sie bedeutet hatte. Heiraten, Kinder kriegen, eine eigene Familie – Geborgenheit, Wärme und Zuwendung erleben, all das, was sie schmerzlich vermisst hatte.

Sie fand einen liebevollen Mann, jedoch der Kinderwunsch ging nicht in Erfüllung. So entschloß sich das Paar, ein kleines Kind in Pflege zu nehmen. Zwölf Jahre lang war der Bub ihr Ein und Alles, zwölf Jahre lang durfte sie den bescheidenen Traum von Familie leben, bis eines Tages die Fürsorgerin vor der Türe stand und sie mit der Tatsache konfrontierte, dass die leibliche Mutter des Buben ihr Kind wieder zu sich nehmen wollte. Keine rechtlichen Möglichkeiten, zu wenig moralische Unterstützung …

„Ich sehe es wie heute vor mir, der Bub in der Tür, die Fürsorgerin, die ihn wegbringt, er, der meine Hände fest umklammert, mich bittet ihn zu behalten, ihn nicht gehen zu lassen … und sein Blick dann, seine Augen, als er erkennt, dass er gehen muss, dass ich nicht imstande bin, ihn zu halten …“

Ein tiefes Schluchzen erschüttert die Patientin bei dieser Schilderung … Hilflosigkeit, Ohnmacht und Resignation – jahre- und jahrzehntelang in den Archiven ihres Leibes aufgehoben – brechen aus ihr, erschüttern den Behandlungsraum. Als sie aus ihrem Schmerz wieder auftaucht und die Ärztin wieder in Kontakt mit ihr kommen kann, spürt die Patientin die Spannung in ihrem Nacken, in der Halswirbelsäule und auch die Schmerzen in den Armen.

Sie erkennt zum ersten Mal den Zusammenhang mit der eben beschriebenen Szene hilfloser Not: „Jedes Mal, wenn ich die Buben in der Schule sehe, deren Eltern sich so wenig um sie kümmern, denke ich an meinen Fritz …“ Jedes Mal also in der Schule, bei der Arbeit, wird eine Wunde wieder aufgerissen und all die Not, die Verzweiflung, die Anspannung – verbunden mit den körperlich-leiblichen Empfindungen – kommen wieder an die Oberfläche.

Es ist immer wieder dieser nicht vollzogene Abschied von ihrem Kind. Nun fällt ihr auch ein, daß es doch eine kleine Veränderung gegeben hatte. Vor zwei Jahren nämlich hat man sie in ein Bubeninternat versetzt. Und seit damals waren die Beschwerden nicht mehr abgeklungen …

 

Daraus ergeben sich Konsequenzen für die weitere Therapie

Zusätzlich zu medikamentösen und physikotherapeutischen Maßnahmen wird eine Einzelpsychotherapie zur Bearbeitung des nicht vollzogenen Abschiedes eingesetzt. Zudem wird eine soziale Veränderung eingeleitet. Der Patientin war vor der ­Therapie schon zur Frühpensionierung geraten worden, nun kann sie bei ihrem Arbeitgeber eine Versetzung erreichen, wo sie nicht ständig mit Kindern und damit nicht jeden Tag aufs Neue mit ihrem »verlorenen Sohn« konfrontiert ist.

 

Psychosomatik in der Orthopädie gegen Fehlhaltungen des Bewegungsapparats

Psychische Prozesse beeinflussen jedenfalls Gesundheit und Krankheit entscheidend. Daran zweifelt heute kaum ein Experte, Zusammenhänge zwischen psychosozialen Belastungen (kritische Lebensereignisse, schwierige Arbeitsbedingungen, familiäre Problemen) sind mittlerweile hinreichend wissenschaftlich belegt.

Individuelle, situationsbezogene Gegebenheiten und Abläufe können zu einer Überbeanspruchung und einer Überschreitung der Anpassungsfähigkeit führen, was sich in Folge in Form von gesundheitliche Störungen, Erkrankungen und chronischen Leiden manifestiert.

Häufig sind hier das muskulo-skelettalen Systems – vor allem der Rücken – betroffen. Durch permanente Anspannung der Rückenmuskulatur kommt es zu dauerhaften Druck, seelische und körperliche Fehlhaltung führt zu Beschwerden, Schmerzen, und Schädigungen am Organsystem Rücken.

Das Belastungs- und Krankheitsgefühl des betroffenen Menschen wird immer größer, eine unzureichende Durchblutung und Fehlhaltungen führen zu Beschwerden – vor allem zu Schmerzen, häufig chronischen. Diese meist sehr starken, immer wiederkehrenden Schmerzen führen letztendlich zu einem Teufelskreislauf von Stress und Krankheitsgeschehen.

Psychosomatische Orthopädie will durch gezielte Behandlung Patienten zu einer Steigerung der psychischen Kompetenz und des Wohlbefindens führen. Die Verbesserung der psychischen Gesundheit (eine bessere Stress und Stressbewältigung) sind Voraussetzung für eine suffiziente Schmerzbewältigung mit dem finalen Therapieziel der Beschwerdefreiheit.




Quellen:

Orthopädie und Rheumatologie: Psychosomatik des Bewegungsapparates. MEDMIX 2005.

Heinl, H.: „Störungen in der Arbeitswelt als Ursache psychosomatischer Schmerzsyndrome“ (Aufsatz in : Psychosomatik in der Orthopädie, Herausgeber H. G. Willert, Hans Huber, 1991)

Integrative Therapie und Psychosomatik. Anton Leitner. http://www.donau-uni.ac.at/imperia/md/content/studium/umwelt_medizin/psymed/artikel/artikelabjuli2005/itpsycho.pdf

http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/?term=psychosomatic+orthopedia

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