Freitag, März 29, 2024

Psychopharmaka bei älteren Menschen und Wechselwirkungen

Es bestehen diverse pharmakotherapeutischen Besonderheiten beim Einsatz von Psychopharmaka bei älteren Menschen, Wechselwirkungen sind ein hohes Risiko.

Im Grunde genommen bekommt die Gruppe der 80- bis 90jährigen in unseren Breiten die meisten Psychopharmaka verschrieben. Viele Hochbetagte bekommen zudem gleichzeitig mehrere beziehungsweise viele Medikamente, und damit steigt auch das Risiko von Wechselwirkungen.

Experten beklagen, dass gerade ältere Menschen genau deswegen ins Krankenhaus eingewiesen werden müssten, weil die behandelnden Ärzte zu viele Psychopharmaka und andere Medikamente verordnen. Ohne dabei das Risiko für den Patienten zu überblicken. In einer rezenten englischen Studie konnten beispielsweise Forscher zeigen, dass Polypharmazie und Psychopharmaka die Stürze bei Bewohnern von Pflegeheimen in Großbritannien voraussagen konnte.

In einer Studie in Wittener und Dortmunder Pflegeheimen konnten unlängst Wissenschaftler zeigen, dass alle 160 Bewohner im Durchschnitt sechs Medikamente einschließlich Psychopharmaka nehmen, ein zehntel sogar mehr als zehn.

 

Lehrmeinung: nicht mehr als fünf Medikamente für ältere Menschen

Mehr als fünf Medikamente sollte kein älterer Mensch nehmen, so die gültige Lehrmeinung. Der Körper kann den Cocktail nicht verarbeiten, und die Wechselwirkungen stellen ein hohes Risiko dar.

Der Griff zur Pille ist dabei gerade in Pflegeheimen sehr verbreitet, beklagt Wilm: „Drei Viertel der Bewohner, die wir in unserer Studie erfasst haben, wurden mit Psychopharmaka geradezu ruhig gestellt. Und das ist durchaus repräsentativ für den Umgang mit Demenz-Patienten.“

Ein Zehntel der Bewohner bekamen mehr als drei Psychopharmaka gleichzeitig verabreicht. „Die Wirkstoffe wirken im Gehirn gegen die bei Demenzpatienten oft auftretende Aggression und Unruhe. Insofern haben sie in manchen Fällen ihre Berechtigung. Studien haben aber gezeigt, dass diese Patienten auch früher versterben. Da muss man doch einen Mittelweg finden, wie man die Verschreibungen verringern kann.“

Demenz, Depression, Sucht, Persönlichkeitsveränderung, Angsterkrankungen – die Liste der mit steigendem Alter wahrscheinlicher werdenden Erkrankungen ist lang.

Welche sind die häufigsten Einsatzgebiete für Psychopharmaka bei älteren Menschen?

Es gibt drei häufige Indikationen – die „3 großen D´s der Alterspsychiatrie“ – bei denen diverse psychiatrische Symptome in Erscheinung treten können: Depression, Demenz und Delir. Depression ist die häufigste psychiatrische Störung im Alter, wobei vor allem subsyndromale Formen auftreten. Die Betroffenen zeigen dann keine klassisch ausgeprägte Depression, sondern Formen, die durch somatische Symptome maskiert und daher nicht sofort zu erkennen sind.

Eine weitere Indikation im Alter und ein großes Problem ist die Demenz (vornehmlich Alzheimer-Demenz, die häufigsten Form), da 80 bis 90 % der Patienten im Krankheitsverlauf Verhaltensstörungen und andere Symptome wie Halluzination, Wahn, Unruhe, Wandern, Aggressivität oder Schlafstörungen entwickeln, die zu therapieren sind.

Die dritte Indikation, das Delir, spielt vor allem in Institutionen eine große Rolle. Viele Patienten, aufgrund von internistischen oder chirurgischen Erkrankungen stationär aufgenommen, können delirant werden. Besonders wenn sie älter sind kann dies beispielsweise nach Operationen auftreten und eine Herausforderung darstellen.

Mit den 3 großen D’s sind zwar nicht alle Indikationen abgedeckt, aber sie beinhalten die wichtigsten Syndrome und die entsprechende Symptomatik. Zusätzlich gibt es noch andere Indikationen: So sind isolierte Symptome, beispielsweise Wahnsymptome ohne kognitive Beeinträchtigung,  ebenfalls mit Psychopharmaka zu therapieren und weiters natürlich auch psychiatrische Erkrankungen wie Schizophrenie oder bipolare Störungen, die schon länger bestehen und im Alter fortschreiten.

Prinzipiell sollte man sich bei der Pharmakotherapie beim älteren Patienten immer an den Nebenwirkungen orientieren. Da ältere Menschen auf Interaktionen und Nebenwirkungen sensibler reagieren als Jüngere, können sie wichtiger als die Wirkung selbst sein. Bei der Startdosis sollte man sich entsprechend zurückhalten. Bei den heutigen Medikamenten gilt: „Start low, dose slow, but go“. Als Beispiel kann bei Antidepressiva-Gabe nach einem vorsichtigen Beginn, vorhandener Wirkung und geringen Nebenwirkungen später durchaus eine wie bei jüngeren Erwachsenen übliche Dosierung eingesetzt werden.

 

Antidepressiva als Psychopharmaka bei älteren Menschen

Nicht nur das Nebenwirkungs- und Indikationsprofil, auch die Wirkung moderner Medikamente ist deutlich besser als bei älteren Substanzen. Gerade die Entwicklung der Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer – SSRIs – und der Selektiven Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer – SSNRI sowie andere dual wirksame Antidepressiva erbrachten besonders bei älteren Patienten große Fortschritte in den Therapieoptionen.

Bei vorhandener Komorbidität können die typischen Symptome des Älteren wie Schmerzen, Antriebsstörung und Angst mit diesen Substanzgruppen sehr gut erfasst werden. Allerdings ist das Interaktionsprofil auch hier bei einigen Substanzen unproblematischer als bei anderen.

Beim älteren Patienten sind aus der Gruppe der SSRI Escitalopram, Citalopram und Sertralin sowie von den SSNRI Venlafaxin, Milnacipran, und die ebenfalls dual wirksamen Substanzen Mirtazapin und Trazodon besser geeignet. Sie verursachen weniger Nebenwirkungen und zeigen bei gleichzeitiger Einnahme von mehreren Medikamenten weniger Interaktionen.

 

Vorgehen bei Komorbidität von Diabetes und Depression

Diese Komorbidität stellt eine besondere Herausforderung dar. Durch die Depression ist oft auch die Compliance beeinträchtigt, was besonders bei Diabetes zu Komplikationen führen kann. Es ist wichtig, Antidepressiva einzusetzen, die stoffwechselneutral sind und keine zusätzlichen Gewichtsprobleme verursachen.

 

Relevante Nebenwirkungen von Psychopharmaka bei älteren Menschen

Spezielle Nebenwirkungen können bei bereits vorhandenen Störungen von Organsystemen auftreten. Trizyklische Antidepressiva sind prinzipiell nur in Ausnahmefällen indiziert, da die anticholinergen Effekte neben den positiven Wirkungen auch Obstipation, Miktionsstörungen, Glaukom oder eine Verschlechterung einer Demenz bewirken können.

Weiters kann ihr kardiotoxisches Potential zu Herzrhythmusstörungen führen. Trizyklische Antidepressiva sind also beim älteren Patienten als obsolet anzusehen.

Die neueren Generationen der Antidepressiva haben viel geringere Nebenwirkungen. SSRIs können zu gastrointestinalen Nebenwirkungen,  Kopfschmerzen und Unruhe führen, bei SNRI ist auch auf noradrenerge Effekte wie Tachykardie, Schwitzen, Hypertonie und teilweise Mundtrockenheit und Harnverhalt zu achten.

Trotzdem sind Vertreter der neueren Generation viel besser geeignet, da die Nebenwirkungen besser kontrollierbar sind. Allgemein ist bei älteren Patienten natürlich besonders auf Sedierung und Sturzgefahr und Wechselwirkungen zu achten.

 

Kontraindikationen von Antidepressiva

Grundsätzlich muss die Fachinformation beachtet werden. Lebererkrankungen sind problematisch und unter Umständen muss die Dosis halbiert werden. Noradrenerg wirksame Antidepressiva können bei Prostatahyperplasie, erhöhtem Augeninnendruck, kardialen Reizleitungsstörungen, cerebralen Krampfanfällen zu Komplikationen führen. Abgesehen davon sind Antidepressiva heutzutage relativ unproblematisch.

 

Wichtige Wechselwirkungen bei Psychopharmaka bei älteren Menschen

Wechselwirkungen beim Einsatz von Psychopharmaka bei älteren Menschen sind gerade beim oft multimorbiden Älteren ein besonderes Thema. Man muss über die anderen eingenommenen Substanzen Bescheid wissen und die Wechselwirkungen mit Antidepressiva kennen.

So besteht bei Kombination mit Biperidon ein erhöhtes Delirrisiko, Antipsychotika, die das CYP 450 induzieren, und Benzodiazepine können die Sedierung verstärken, Antazida, manche Antihypertensiva und Nikotinabusus reduzieren hingegen die Wirkung von Antidepressiva. Auf der anderen Seite können Antidepressiva bei Marcumar-Therapie die Blutungszeit verlängern und die Blutdrucksenkung bei β (BETA)-Blocker und Diuretika verstärken.

Auch in Bezug auf das Intreraktionsprofil bestehen Unterschiede zwischen einzelnen Antidepressiva. Im klinischen Alltag kann eine Wechselwirkung anfangs bedeutungslos sein, und erst  wenn 4 oder 5 Medikamente gleichzeitig gegeben werden, in Erscheinung treten. Die Substanzen haben sich im Interaktionsprofil potenziert und man kann nicht mehr sagen, welche Medikamente interagiert haben. Daher sollte man bei Psychopharmaka-Gabe jene mit den geringsten Wechselwirkungen auswählen. Bei den SSRI´s sind beispielsweise Fluoxetin und Paroxetin nicht so optimal wie Escitalopram und Sertralin.

 

Die Rolle von Benzodiazepine als Psychopharmaka bei älteren Menschen

Benzodiazepine sind die am häufigsten verschriebenen Psychopharmaka bei älteren Menschen. Oft werden sie statt Antidepressiva verwendet und nicht als hilfreiche Zusatzmedikation. Die Gefahr einer Abhängigkeit von Benzodiazepine ist nicht zu unterschätzen, vor allem Frauen ab 60 Jahren sind sehr suchtgefährdet. Häufig werden Senioren mit Suchtproblemen aber als Zielgruppe vernachlässigt beziehungsweise wird das Problem der Sucht im Alter völlig unterschätzt.

Somit ist Sucht ein wichtiges Thema für Seniorenheime – oft werden aus Personalmangel Beruhigungstabletten statt Zuwendung angewendet. Der Verbrauch von Psychopharmaka bei älteren Menschen ist folglich in Alten- und Altenpflegeheimen um ein Vielfaches höher als bei alten Menschen, die privat leben.

Doch auch aufgrund bestehender Stereotype leiden viele ältere Suchtkranke unter starken Schuldgefühlen und ignorieren, dass sie eigentlich Hilfe bräuchten. Diese Umstände sind beim Einsatz von Psychopharmaka bei älteren Menschen sehr zu berücksichtigen.

 

Die häufigsten Psychopharmaka bei älteren Menschen

Als Psychopharmaka bei älteren Menschen werden häufig Präparate mit Risperidon eingesetzt: zur Indikation Verhaltensstörungen und psychiatrische Symptome bei der Demenz. Allerdings sind Personen, die eine psychiatrische Vorerkrankung (Schizophrenie, bipolare Störung) oder eine Depression mit psychotischer Symptomatik haben, mit Antipsychotika zu therapieren.

Prinzipiell sind nur Antipsychotika der neuen Generation wie Risperidon, Olanzapin, Quetiapin oder Ziprasidon – selbstverständlich unter bestimmten Auflagen – einzusetzen. Ältere Substanzen nach dem Prototyp Haloperidol sind zu vermeiden.

Es gab immer wieder Diskussionen, ob Antipsychotika zerebrovaskuläre Komplikationen bewirken. Doch sind Sicherheitsauflagen wie Blutdruck- und EKG-Kontrollen erfüllt und hat sich der Arzt vergewissert, dass keine zerebrovaskulären Probleme bestehen, liegt es in seinem Ermessen, ein Medikament einzusetzen. Wenn Nebenwirkungen auftreten, ist ein anderes Medikament, aber ebenfalls aus der Gruppe der neueren Generation bzw. der atypischen Antipsychotika zu wählen.

 

Speziellen Gefahren beim Einsatz von Psychopharmaka bei älteren Menschen

Neuroleptika der älteren Generation können bei älteren Patienten zu irreversiblen tardiven Dyskinesien führen. Neben den genannten Neben- und Wechselwirkungen sind in der Psychopharmaka-Therapie des alten Menschen paradoxe Arzneimittelwirkungen, die vor allem bei den Benzodiazepinen bekannt sind, möglich.


Literatur:

Izza MAD, Lunt E, Gordon AL, Gladman JRF, Armstrong S, Logan P. Polypharmacy, benzodiazepines, and antidepressants, but not antipsychotics, are associated with increased falls risk in UK care home residents. A prospective multi-centre study [published online ahead of print, 2020 Aug 19]. Eur Geriatr Med. 2020;10.1007/s41999-020-00376-1. doi:10.1007/s41999-020-00376-1

Williams S, Miller G, Khoury R, Grossberg GT. Rational deprescribing in the elderly. Ann Clin Psychiatry. 2019;31(2):144-152.

Halli-Tierney AD, Scarbrough C, Carroll D. Polypharmacy: Evaluating Risks and Deprescribing. Am Fam Physician. 2019;100(1):32-38.

Sannidhya Varma, Himanshu Sareen, J.K. Trivedi. The Geriatric Population and Psychiatric Medication. Mens Sana Monogr. 2010 Jan-Dec; 8(1): 30–51. doi: 10.4103/0973-1229.58818

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