Freitag, März 29, 2024

Neurologische Erkrankungen unterschätzt

Neurologische Erkrankungen werden unterschätzt. Experten fordern mehr Ressourcen für Forschung und Patientenversorgung.

Mehr als 220 Millionen Menschen in Europa leiden an einer neurologischen Erkrankung – eine vielfach unterschätzte Dimension mit Potenzial zur regelrechten Versorgungs-Zeitbombe. Denn viele der Erkrankungen wie Schlaganfall, Parkinson oder Alzheimer werden in einer alternden Gesellschaft massiv zunehmen. Die Gesundheitspolitik müsse der Neurologie endlich die Priorität zukommen lassen, die ihrer Bedeutung angemessen ist. Europaweit ausreichend Behandlungs- und Forschungsressourcen sicherzustellen sei das Gebot der Stunde, forderte EAN-Präsident Prof. Günther Deuschl auf dem Europäischen Neurologiekongress in Berlin.

„Die Dimension und die Krankheitslast neurologischer Erkrankungen in Europa werden unterschätzt, sie finden zu wenig Beachtung und das Fach ist in vielen europäischen Ländern mit unzureichenden Ressourcen ausgestattet. Dabei sollte der Versorgung neurologischer Patienten, aber auch der Forschung auf unserem Fachgebiet höchste gesundheitspolitische Priorität auf allen Ebenen zukommen“, sagte heute Prof. Günther Deuschl (Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Kiel), Präsident der European Academy of Neurology (EAN), beim Kongress dieser neuen europäischen Fachgesellschaft in Berlin. Von 20. bis 23. Juni diskutieren hier mehr als 6.500 Experten aus aller Welt aktuelle Trends ihres Fachgebietes. Die EAN entstand im Vorjahr durch eine Zusammenführung der beiden europäischen neurologischen Fachgesellschaften, der European Federation of Neurological Societies (EFNS) und der European Neurological Society (ENS).
Ein Drittel der Bevölkerung habe zumindest einmal im Leben Kontakt mit einem Neurologen, so Prof. Deuschl. „Daten des European Brain Council zufolge leiden insgesamt 220,7 Millionen Menschen in Europa* an mindestens einer neurologischen Erkrankung – das sind mehr als die Einwohner von Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammen“, rechnete der EAN-Präsident vor.
 Diesen Anforderungen stehen im EU-Raum insgesamt rund 25.000 Neurologinnen und Neurologen gegenüber, die noch dazu geographisch ungleich verteilt sind: Je nach Land sind es zwischen vier und 13 Neurologen pro 100.000 Einwohner. Prof. Deuschl: „Das reicht schon heute kaum aus, und wird erst recht perspektivisch immer mehr zum Problem. Denn viele neurologische Erkrankungen wie Schlaganfall, Demenz oder Morbus Parkinson haben eine Alterskomponente, ihre Häufigkeit nimmt also mit steigendem Alter deutlich zu. Und während heute laut Eurostat der Anteil der Bevölkerung über 65 Jahren in der EU bei rund einem Viertel liegt, werden es 2060 schon 52 Prozent sein.“

Neurologie: Ein Fach auf „Hochgeschwindigkeitskurs“

Dieser Entwicklung kann die moderne Neurologie allerdings etwas entgegensetzen. „Die Neurologie ist ein Fach auf Hochgeschwindigkeitskurs, kaum ein anderes Fachgebiet entwickelt sich in einem derart rasanten Tempo. Die vielen Subdisziplinen, die wir unter dem Dach der Neurologie vereinen, tragen zu diesem Fortschritt bei“, so Prof. Deuschl. „Wir haben also auf die wachsende Herausforderung durch diese Erkrankungen auch immer mehr präventive, diagnostische, therapeutische und rehabilitative Antworten.“
Neurologie und Gesundheitspolitik hätten hier ein gemeinsames Interesse. „Europa muss mehr tun im Bereich der neurologischen Erkrankungen, das liegt auf der Hand“, betonte der EAN-Präsident. „Ein erster wichtiger Schritt wäre es, einen angemessenen Anteil der rund acht Milliarden Euro, die im Rahmen des EU-Programms ‚Horizon 2020‘ für medizinische Forschung zur Verfügung stehen, in neurologische Forschung und Neurowissenschaften zu investieren.“

Neurologische Erkrankungen belasten Europas Volkswirtschaften

Die Neurologie ausreichend zu dotieren ist schon deshalb angezeigt, weil viele neurologische Erkrankungen zu großem menschlichen Leid und zu einer Beeinträchtigung der Unabhängigkeit, nicht zuletzt durch Behinderung und Pflegebedürftigkeit, führen. Die Kosten durch neurologische Erkrankungen verursachten volkswirtschaftlichen Kosten sind empfindlich hoch. Mehr als 336 Milliarden Euro pro Jahr**  machen die direkten und indirekten Kosten neurologischer Erkrankungen aus, das ist mehr als der gesamte deutsche Bundeshaushalt. Die Top 3 sind Demenz (105 Milliarden Euro), gefolgt von Schlaganfall (64 Milliarden) und Kopfschmerzen (43 Milliarden). 122 Milliarden Euro entfallen jeweils auf Behandlungs- und direkte nichtmedizinische Kosten, 93 Milliarden auf indirekte Kosten, die beispielsweise durch Krankenstände und Frühpensionierungen entstehen.
Auch gemessen in DALYs***, einer Messgröße für die durch Krankheit und vorzeitigen Tod verlorenen Lebensjahre, sind neurologische Erkrankungen ein erheblicher Faktor. 2,2 Millionen DALYs in der EU****  gehen auf das Konto von Demenzerkrankungen, 1,6 Millionen sind durch Schlaganfälle verursacht, 640.000 durch Parkinson und 260.000 durch Epilepsie. Weltweit werden die DALYs aufgrund neurologischer Krankheiten von 95 Millionen (2015) bis zum Jahr 2030 auf 103 Millionen ansteigen, prognostiziert die WHO, also um mehr als neun Prozent. In besonderem Maß sind dafür Alzheimer und andere demenzielle Erkrankungen (plus 37 Prozent) oder zerebrovaskuläre Erkrankungen (plus 13 Prozent) verantwortlich.

EAN: Wichtiger Beitrag zu Forschung und Versorgung

Die neue European Academy of Neurology könne hier einen wichtigen Beitrag zu einer hochwertigen neurologischen Versorgung in Europa leisten, betonte der EAN-Präsident: „Dazu gehören unter anderem eine koordinierende Rolle in der neurologischen Praxis, Aus- und Fortbildung und die Definition von einheitlichen diagnostischen und therapeutischen Standards in Bezug auf die Patientenversorgung in Europa, nachdem wir uns immer mehr in Richtung einer Harmonisierung der europäischen Gesundheitssysteme bewegen. Die EAN hat auch großes Potenzial, was die Förderung von Wissenschaft und Forschung in der Neurologie und der Neurowissenschaften im Allgemeinen betrifft. Das beweist schon die Vielfalt an neuen Erkenntnissen, die auf diesem Kongress präsentiert werden.“
Der Zusammenschluss der beiden europäischen Fachgesellschaften zur EAN habe die europäische Neurologie in eine Pole-Position befördert, betonte der EAN-Präsident. “Gemeinsam wird es uns noch besser gelingen, die wichtigen Aufgaben in Angriff zu nehmen. Wir bieten einen Rahmen, um alle Subfächer der Neurologie unter einem Dach zusammenzufassen und die gemeinsamen Anliegen zu vertreten. So ziehen alle Spezialisten an einem neurologischen Strang.“

Quellen:

BrainFacts.org, Brain Disease in Europe, November 2013; Olesen et al.: The economic cost of brain disorders in Europe. European Journal of Neurology 2012, 19: 155-16;

Wittchen et al, The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in europe 2010. European Neuropsychopharmacology 2011, 21: 655–679;

WHO: Neurological Disorders: Public Health Challenges, Chapter 2, Global Burden of Neurological Disorders. Estimates and Projections; Steck et al, The global perspective on neurology training: the World Federation of Neurology survey. J Neurol Sci 2013, 334(1-2):30-47

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