Freitag, März 29, 2024

Neurogeriatrie gewinnt an Bedeutung

Neurogeriatrie steht durch epidemiologischen Veränderungen und zunehmende Lebenserwartung am Beginn dramatischer Veränderungsprozesse.

Wie in anderen Bereichen der Geriatrie werden auch in der Neurogeriatrie verschiedene medizinische Disziplinen, Therapieberufe, Pflegeberufe, Sozialdienste und Psychologen zusammengeführt.

In den Ländern mit der höchs­ten Lebenserwartung steigt die mittlere Lebenserwartung pro vier Jahren um ein weiteres Jahr (0,23 pro Jahr). Salopp ausgedrückt, man erhält heute pro erlebter Woche ein Wochenende dazu. Diese Entwicklungen und ihre Folgen für das Gesundheitssystem sind bereits seit gut 20 Jahren bekannt, doch erst der steigende Kostendruck und das am Rande der Unfinanzierbarkeit stehende, auf dem Bismarck’schen Umlagenprinzip finanzierte Gesundheitswesen lassen die Alarmglocken schrillen.

Auf der einen Seite stehen immer weniger erwerbstätige Menschen einer immer größer werdenden Anzahl alter und hochbetagter, chronisch kranker und versorgungsbedürftiger Menschen gegenüber. Andererseits führt die hohe medizinische Versorgungsqualität zu einem galoppierenden Kostenanstieg, der Fragen nach der uneingeschränkten Verfügbarkeit medizinischer Leistungen zwangsläufig mit sich bringt. Die Beantwortung dieser Fragen wird in den kommenden Jahren ohne Zweifel auch zu einer Verschiebung der medizinischen Aufgaben und des Leistungsangebots führen.

 

Was Neurogeriatrie ist

Die Neurogeriatrie versorgt betagte und hochbetagte, multimorbide, im Vordergrund neurologisch erkrankte Personen, für die Bedarf an einer führend neurologischen, multimodalen, ganzheitlichen Behandlung und Betreuung besteht. Sie zielt sowohl auf medizinische als auch funktionelle, psychische, kognitive und soziale Aspekte der Erkrankungen ab, um nach einer (durch eine gesundheitliche Störung hervorgerufene) Verschlechterung des Selbstständigkeitsgrades eine bestmögliche Reintegration zu erreichen (wichtigstes Ziel: weitgehend selbstständige Lebensführung) oder neurologischen Erkrankungen bzw. neurologisch bedingten Funktionsverschlechterungen vorzubeugen.

Die im Rahmen des multimorbiden Erkrankungsspektrums häufigsten neurologischen Diagnosen sind die Folgen von Schlaganfällen (ischämische Infarkte und Blutungen), neurologische Schmerzsyndrome, periphere neurologische Erkrankungen, Erkrankungen motorischer Systeme, Verletzungen des Nervensystems, Anfallsleiden, Demenzen, und sensorische Funktionsstörungen. Sie lassen sich allgemein unterteilen in solche, die ausschließlich im höheren Lebensalter vorkommen (z.B. Demenzen) sowie in Erkrankungen, die in jedem Lebensalter auftreten können, sich im Alter jedoch durch eine veränderte klinische Symptomatik und Behandlungserfordernisse auszeichnen (z.B. Altersepilepsie).

Auch alle anderen neurologischen Erkrankungen zeigen im höheren Lebensalter Besonderheiten, die einen speziellen Wissensstand erfordern. Die Diagnostik im höheren Lebensalter ist vielschichtiger und häufig auch komplizierter, die Krankheitssymptome können oft von typischen Mustern abweichen. Spezielle Situationen ergeben sich im Rahmen der pharmakologischen Behandlung im höheren Lebensalter nahezu regelmäßig infolge besonderer Interaktionen und altersabhängiger Nebenwirkungen.

Laut einer WHO-Studie aus dem Jahr 2001, die untersuchte, was die häufigsten Erkrankungen für ein Leben mit bleibender Behinderung sind, zählten Leiden aus dem neurologischen Formenkreis mit knapp 50 % zu den führenden Ursachen. Besonders erwähnenswert ist, dass es sich hierbei um Erkrankungen handelt, die prinzipiell als rehabilitierbar gelten bzw. sich durch ein gegebenes Rehabilitationspotenzial auszeichnen.

 

Methodik in der Neurogeriatrie

Die Indikation zur neurogeriatrischen Behandlung und Versorgung wird nach ausführlicher Anamnese (auch Fremdanamnese) sowie primärer Akut-Diagnostik und Akutbehandlung an Akutabteilungen oder Akutambulanzen gestellt.

Neurogeriatrie erfolgt an neurogeriatrischen Abteilungen, Ambulanzen oder tagesmedizinischen Zentren mittels eines, den individuellen medizinischen und sozialen Bedürfnissen entsprechenden Behandlungskonzepts mit Definition der Behandlungsziele, der anzuwendenden Methoden und Verfahren und Festlegung eines Zeitplans.

Die Neurogeriatrie erkennt einen zunehmenden Bedarf an Diagnostik, Behandlung, und Versorgung sowohl führend neurologisch erkrankter multimorbider- als auch multimorbider, betagter Patienten mit neurologischen Begleitdiagnosen an nicht-neurologischen geriatrischen Fachabteilungen, Ambulanzen, sonstigen medizinischen Einrichtungen, in Pflegeinstitutionen und in verschiedenen sozialen Bereichen.

Die Neurogeriatrie ist inhaltlich nahezu immer mit dem Prozess der neurologischen Rehabilitation verknüpft und bildet mit ihr ein integrales System. So bedient sie sich in großen Bereichen der Methodik der Neurorehabilitation, unterscheidet sich von dieser jedoch durch das im Regelfall höhere Alter der ­Patienten und der alters- und multimorbiditätsbedingten mehrfachen Einschränkungen.

Mittels gültiger medizinischer und wissenschaftlicher Methoden evaluiert die Neurogeriatrie den Fortschritt auf dem Gebiet der Diagnose und Behandlung neurologischer Erkrankungen im Alter, insbesondere die Anwendbarkeit von Studienergebnissen auf neurogeriatrische Patienten unter besonderer Berücksichtigung des hohen Alters und der Multimorbidität. Die neurogeriatrische klinische Forschung widmet sich der Prävention, Diagnose und Therapie neurologischer Erkrankungen im hohen Alter unter Berücksichtigung von Multimorbidität und mehrfachen Funktionseinschränkung.

 

Chancen durch Neuroplastizität

Unter Neuroplastizität soll und darf kein Heilungsversprechen verstanden werden. Es bedeutet vielmehr die innere Fähigkeit der Nervenzellen, gegen biochemische und strukturelle Änderungen zu kämpfen, deren adaptive Abilität, gegen Schädigungen und Krankheiten kompensatorisch zu reagieren sowie ihre Fähigkeit, in sich verändernden Umgebungen und Prozessen der Informationsspeicherung, ihre Aktivität zu verändern und anzupassen.

Neuroplastische Prozesse werden durch die Methoden des aktiven Trainings (Bewegung und über die Sinne) angeregt. Diese Tatsache lässt sich therapeutisch und rehabilitativ nutzen, um ­eine geschädigte Funktion wieder aufzubauen.

Um geschädigte Hirnareale im Rahmen der Möglichkeiten wiederherstellen zu können, müssen dem Hirn über die Peripherie geeignete Reize geboten werden. Plastische Prozesse werden zwar mit zunehmendem Alter oder auch traumatischer Schwächung nach und nach weniger wirksam, bleiben jedoch bis ins hohe Alter bis zu einem gewissen Grad erhalten und von Bedeutung. Hieraus ergibt sich einerseits ein ­Argument für die Forderung nach einem möglichst frühzeitigen Rehabilitationsbeginn, andererseits auch die Verpflichtung, selbst bei betagten Personen potenziell rehabilitierbare Restfunktionen und sensomotorische wie auch kognitive Kompensationsfähigkeiten zu erkennen und – darauf aufbauend – entsprechende restitutive Rehabilitationsverfahren einzusetzen. Die Möglichkeit der Wiederherstellung und Veränderung von Neuronenverbindungen bewegt sich innerhalb verschiedener, teilweise auch enger Grenzen. Sie ist abhängig vom Ausmaß, der ­Lokalisation, dem Alter der Schädigung, dem Zeitpunkt des Therapiebeginns sowie der Dauer, Intensität und Häufigkeit der Therapie. Ein weiteres, wichtiges Kriterium stellt die Motivation von Patienten und Therapeuten dar. Komplexe Erkrankungen und teilweise chronifizierte Schädigungsmuster bedürfen einer fachlich hochqualitativen und interprofessionellen Betreuungsstruktur, im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtungsweise von Gesundheit und der individuellen Lebensqualität.

Quelle:

Neurogeriatrie – Altersspezifische Fachkompetenz gewinnt an Bedeutung. Prim. Dr. Andreas Winkler. MEDMIX 2/2009

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