Freitag, März 29, 2024

Risiken reduzieren: wie gefährlich eine Narkose bei Kindern ist

Ist eine Narkose bei Kindern für die kognitive Entwicklung gefährlich? Studienergebnisse aus den USA – MEDMIX berichtete – lies diesen Schluss bei Vollnarkose vermuten. Doch Experten relativieren.

Im Grunde genommen kam es im Jahr 2015 zu sehr negativen Medienberichten aufgrund einer Fall-Kontroll-Studie aus Cincinnati. Dabei haben die Forscher unterstellt, dass eine Narkose bei Kindern für die kognitive Entwicklung ganz junger Patienten gefährlich werden könnte. Die Frage, ob Anästhetika und Sedativa das sich entwickelnde Gehirn modulieren, beschäftigt zahlreiche Experten weltweit seit vielen Jahren. Eine Vielzahl an präklinischen, experimentellen und retrospektiven Kohortendaten wurde zusammengetragen, etliche exzellente Reviews fassen die Ergebnisse zusammen.



 

Ergebnisse aus Tiermodellen

Nach wie vor bestehen jedenfalls erhebliche Schwierigkeiten bei der Translation der Ergebnisse aus Tiermodellen auf den Menschen. Denn die Aussagen von bisherigen humanen epidemiologischen Studien sind durch inhärente Limitationen begrenzt. Ein internationales Expertengremium aus Grundlagenforschern und Klinikern hat dazu den aktuellen Kenntnisstand folgendermaßen zusammengefasst.

  • Anästhetika haben im Tiermodell zahlreiche unterschiedliche Effekte auf das Zentralnervensystem (ZNS). Die Veränderungen sind am größten bei jungen Tieren; das Ausmaß ist abhängig von Dosis, Substanz und Alter der Tiere. Bestimmte Interventionen können Veränderungen im Sinne von Lernbeeinträchtigungen abmildern.
  • Es existieren etliche plausible Erklärungsmechanismen für Neurotoxizität im Tiermodell, für eine Assoziation zwischen Anästhesie und neurologischer Entwicklung jedoch gibt es nach wie vor keine klare Evidenz.
  • Retrospektive Kohortenstudien beim Menschen zeigen derzeit kontroverse Ergebnisse bezüglich einer Assoziation zwischen Operation/-en und Anästhesie-Exposition in der frühen Kindheit und späterer neurokognitiver Entwicklung. Es ist völlig unklar, ob die Resultate der Tierstudien irgendeine klinische Relevanz für den Menschen haben.

 

Zur Narkose kleine Anzahl untersuchter Kinder

Auch die eingangs zitierte Fall-Kontroll-Studie von Backeljauw et al. zu Narkose bei Kindern weist schließlich naturgemäß etliche Limitationen auf. Und zwar haben das die Autoren, im Gegensatz zur Kommentaren in Fachmedien, auch durchaus kritisch in ihrer Arbeit diskutiert.

Beispielsweise umfasst die Eigenkritik unter anderem die kleine Anzahl an untersuchten Kindern (je Gruppe n=53). Weiter besteht ein möglicher Einfluss durch eine besonders hohe elterliche Motivation aufgrund der Meldung zur freiwilligen Teilnahme an den zeitaufwendigen Studien.

Eine Rolle kann auch die Indikation zur Operation beziehungsweise die Operation selbst spielen. Es sind übrigens fast ausschließlich Hals-Nasen-Ohren-Eingriffe wegen rezidivierender HNO-Infektionen mit potenziell vorbestehender Beeinträchtigung des Hörvermögens und der Sprachentwicklung. Zudem kommen Eingriffe aufgrund von Störungen der perioperativen Homöostase im Sinne von interventionspflichtiger arterieller Hypotonie und Hypokapnie häufig vor.

 

Angewiesen auf epidemiologische Studien

Eine echte randomisierte klinische Studie mit Anästhesie-Verzicht beziehungsweise Anästhesie-Exposition ohne Indikation wird es somit aus ethischen Gründen auch in der Zukunft nie geben. Die Experten sind daher weiterhin angewiesen auf aussagekräftige epidemiologische Studien.

Eine neuere retrospektive Kohortenstudie aus Schweden zeigte bei einem Vergleich von über 34.000 Kindern, die sich in den ersten vier Lebensjahren einer Operation in Narkose unterzogen hatten, mit gepaarten Kindern ohne Operation und Narkose, dass Letztere nur einen marginalen Einfluss auf die Schulergebnisse der Kinder hatten. Mehr Einfluss hatte das Geschlecht des Kindes – Jungen schnitten circa um zehn Prozent schlechter ab als Mädchen, die universitäre Ausbildung der Mutter (etwa zehn Prozent) und der Monat der Geburt (bezüglich Einschulungsalter, Dezember/Januar-Unterschied fünf Prozent). Damit wird die Entität „Operation und Narkose“ in einen gesundheitspolitischen Gesamtkontext gerückt.

 

Unklare Datenlage, wie gefährliche eine Narkose bei Kindern wirklich ist

Weiterhin ist somit unklar, ob die mutmaßliche Neurotoxizität tatsächlich als Anästhetika induziert oder vielmehr als anästhesie-, operations- oder vorerkrankungsassoziiert zu werten ist. Der Ausschluss nicht anästhesiologischer Einflussfaktoren (Kontrolle der Confounder) ist – insbesondere bei retrospektiven Studien – allerdings kaum möglich.

Aus Sicht der perioperativen Medizin kann jedenfalls gar nicht genug unterstrichen werden, wie bedeutsam Krankheit, Operation, Anästhesie und Hospitalisation in der frühen Kindheit mit all ihren Nebenwirkungen für die Weiterentwicklung sein können. Es ist daher die vornehmste Aufgabe aller an der Behandlung von Kindern beteiligten Disziplinen und Berufsgruppen, Störungen der empfindlichen kindlichen Homöostase zu vermeiden. Denn die haben das Potenzial, die weitere psychologische und neurokognitive Entwicklung relevant zu beeinträchtigen.

Unter dem Strich darf Anästhesie niemals Selbstzweck sein. Allerdings ist eine adäquate Anästhesie beziehungsweise Analgesie für notwendige operative Eingriffe unverzichtbar. Denn eine Verschiebung oder gar Vermeidung indizierter Eingriffe ist auf Grund der gegenwärtigen Datenbasis keinesfalls gerechtfertigt.

Im Grunde genommen hängt das Ergebnis der Behandlung der Kinder im Wesentlichen von der individuellen Kompetenz und der institutionellen Expertise ab. Die konsequente Wahrung der kindlichen Homöostase genießt dabei oberste Priorität. Kinder in den ersten Lebensjahren sind schließlich eine besondere Patientengruppe mit erhöhtem perioperativem Risiko, die von versierten Experten versorgt werden muss.




Literatur:

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News Medizin: Studie: Narkose kann kognitive Entwicklung von Kleinkindern schädigen. Deutsches Ärzteblatt 2015; 08.06.2015, online.

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Vutskits L, Davis PJ, Hansen TG. Anesthetics and the developing brain: time for a change in practice? A pro/con debate. Paediatr Anaesth. 2012 Oct;22(10):973-80. doi: 10.1111/pan.12015. PMID: 22967155.

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Davidson AJ, Becke K, de Graaff J, Giribaldi G, Habre W, Hansen T, Hunt RW, Ing C, Loepke A, McCann ME, Ormond GD, Pini Prato A, Salvo I, Sun L, Vutskits L, Walker S, Disma N. Anesthesia and the developing brain: a way forward for clinical research. Pediatr Anesth 2015; 25(5):447-452.

Backeljauw B, Holland SK, Altaye M, Loepke AW. Cognition and Brain Structure Following Early Childhood Surgery With Anesthesia. Pediatrics. 2015 Jul;136(1):e1-12. doi: 10.1542/peds.2014-3526. Epub 2015 Jun 8. PMID: 26055844; PMCID: PMC4485006.

Glatz P, Sandin RH, Pedersen NL, Edstedt Bonamy A, Eriksson LI, Granath FN. Academic performance after anesthesia and surgery during childhood: a large-scale nation-wide study. Anesth Analg 2015; 120: S 289 (S-1 – S-532).

Becke K. Anästhesie bei Kindern: Sicher bei individueller Expertise und institutioneller Kompetenz. Dtsch Arztebl 2014; 111(31-32): A-1368 / B-1178 / C-1122.


Quelle:

Statement von Dr. med. Karin Becke, Wissenschaftlicher Arbeitskreis „Kinderanästhesie“ der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI), Chefärztin der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin, Klinik Hallerwiese/Cnopf´sche Kinderklinik, Nürnberg – an der 53. Herbsttagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH).

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