Freitag, März 29, 2024

Behandlung der Reizblase – Verhaltenstherapie und Anticholinergika

Die Behandlung der Reizblase (Überaktive Blase) beruht auf 2 Therapie-Säulen: Verhaltenstherapie und der Gabe von Anticholinergika.

Mit der Entwicklung effektiver Anticholinergika glaubte man den Schlüssel zur Therapie der Reizblase gefunden zu haben. Heute weiß man, dass ihr Einsatz wesentlich effektiver ist, wenn sie mit gemeinsam mit einer Verhaltenstherapie anwendet.



 

Der imperative Drang: nicht unterdrückbarer Harndrang bei einer Reizblase

Das Schlüsselsymptom bei Reizblase ist der imperative Drang, der dadurch charakterisiert ist, dass es plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung, zu einem ­starken, praktisch nicht unterdrückbaren Harndrang kommt, der eine sofortige oder möglichst baldige Blasenentleerung erfordert.

Die überaktive Blase ist demnach ein klinischer Begriff beruhend auf ­Symptomen, die durch recht unterschiedliche ­pathophysiologische Mechanismen zustande ­kommen. Davon abzugrenzen ist die Detrusorüberaktivität, die durch unwillkürliche Detrusorkontr­aktionen charakterisiert ist und nur durch eine ­urodynamische Untersuchung nachgewiesen ­werden kann.

Nur bei der Hälfte der Patienten mit überaktiver Blase findet sich auch eine Detrusorüberaktivität, andererseits muss eine Detrusorüberaktivität nicht unbedingt zu klinischen Symptomen der überaktiven Blase führen.

 

Anticholi­nergika – Antimuskarinika – zur Behandlung der Reizblase

Bei manchen Formen der Inkontinenz, insbesondere bei der Dranginkontinenz im Alter, sind Änderungen der Lebensgewohnheiten und verhaltenstherapeutische Maßnahmen die Therapie der Wahl. Anticholi­nergika sollten erst dann eingesetzt werden, wenn diese Maßnahmen nicht ausreichend sind.

Die Empfehlung, bei Harninkontinenz im Alter ausreichend, aber auch nicht zuviel zu trinken (die 24-Stunden-Harnausscheidungsmenge sollte bei 2000 ml liegen), den Kaffeegenuss zu reduzieren und durch entsprechende diätetische Maßnahmen eine chronische Obstipation zu verhindern, basieren auf Expertenmeinungen, eine auf Studien basierende Evidenz dafür gibt es kaum.

Hingegen sind zur Behandlung der Reizblase der Wert der Verhaltenstherapie sowie Miktionstraining, Toilettentraining und Beckenbodenredukation durch entsprechende Studien belegt. Auch die Fähigkeit, den Sphinkter ani willkürlich kontrahieren zu können, ist ein positiver Prädiktor für den Erfolg einer Kontinenztherapie. Die First-Line Pharmakotherapie der Reizblase ist die Behandlung mit Anticholinergika (Antimuskarinika ).



 

Wirkmechanismus der ­Anticholi­nergika

Nach dem klassischen Konzept wirken sie auf der efferenten ­Seite, indem sie die M2- und M3-Rezeptoren der glatten Muskulatur der Harnblase blockieren. Neuere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass eine wohl sehr wesentliche Wirkung auch auf der afferenten Seite gegeben ist. Die M2- und M3-Rezeptoren im Urothel und im Suburothel sind mit hoher Wahrscheinlichkeit für die Weiterleitung afferenter Impulse mitverantwortlich.

Sie werden ebenfalls durch Antimuskarinika blockiert, die so über die Hemmung der afferenten Impulse zur Relaxation des Detrusors führen. Erst kürzlich wurde im Tierversuch nachgewiesen, dass die systematische Anwendung von Oxybutynin die afferenten Aktivitäten sowohl in den Aδ- als auch in den C-Fasern reduziert.

 

Behandlung der Reizblase mit Antimuskarinika: Wirkung und Nebenwirkungen

Die Evidenz für die Wirkung der Antimuskarinika ist bei idiopathischer und neurogener Reizblase für die Substanzen Oxybutynin, Tolterodine, Trospiumchlorid und Propiverine bewiesen, bei idiopathischer Reizblase auch für die neueren Substanzen Solifenacin und Darifenacin. Die Unterschiede in der Effizienz der heute angewandten Antimuskarinika sind marginal. Diskutiert wird ein möglicher Vorteil bei M3-Selektivität.

Darifenacin und Solifenacin haben im Vergleich zu den anderen Antimuskarinika eine stärkere Bindung an die M3-Rezeptoren und sollten dadurch wirksamer sein. Der Vorteil einer stärkeren Bindung von Antimuskarinika an die M3-Rezeptoren ist jedoch nicht gesichert, zumal sich offensichtlich im Alter, aber auch bei anderen pathologischen Zuständen das Verhältnis zugunsten der M2-Rezeptoren verschiebt und diesen dann offensichtlich eine besondere Rolle zukommt.

Zudem führt eine hohe M3-Selektivität auch zu Nebenwirkungen, unter Darifenacin tritt eine Obstipation deutlich häufiger auf, was bei älteren Patienten zum Problem werden kann.

Chapple et al. (2006) kommen aufgrund einer durchgeführten Metaanalyse von 56 Studien zum Schluss, dass sich die modernen Antimuskarinika in erster Linie durch ihre Verträglichkeit und Sicherheit unterscheiden. Diese Unterschiede sind aber klinisch signifikant.

Ein Kriterium für das Auftreten von Nebenwirkungen ist die Geschwindigkeit der Resorption sowie der Resorptionsweg: Je rascher die Substanz aus dem Gastrointestinaltrakt resorbiert wird, desto ausgeprägter ist der initiale Serumspiegel der Substanz, je höher dieser initiale Spike, desto ausgeprägter sind die antimuscarinergen Nebenwirkungen.

 



Im Gegensatz zu den »Immediate release«(IR)-Formulierungen sind deshalb die »Extended release«(ER)-Formulierungen dieser Substanzen, auch »Slow-release«- oder »Retard«-Formulierungen genannt, besser verträglich.

Ein klassisches Beispiel dafür ist das Oxybutynin, das in seiner ER-Formulierung, insbesondere aber bei der transdermalen Anwendung als Oxybutynin-Pflaster deutlich weniger Nebenwirkungen als das IR-Oxybutynin zeigt (Mundtrockenheit bei transdermaler Anwendung im Placeboniveau).

Eine »Once daily«-Formulierung erhöht zudem bei bestehender Polymedikation die Akzeptanz und Compliance für das Präparat. Dies gilt aufgrund seiner langen Halbwertszeit auch für das Solifenacin.

Auch die Pharmakodynamik ist für Nebenwirkungen mitverantwortlich. Orale Anticholinergika gelangen nach Resorption aus dem Gastrointestinaltrakt über den Pfortaderkreislauf in die Leber und werden dort vor allem mit Hilfe des Cytochrom P-450 Systems metabolisiert. Medikamente, die dieses System aktivieren oder inaktivieren, können Plasmakonzentrationen jener Antimuskarinika, die ebenfalls über dieses System metabolisiert werden – das trifft für alle mit Ausnahme von Trospiumchlorid zu – entweder erhöhen oder erniedrigen.

 

Zentralnervöse Nebenwirkungen der Antimuskarinika

Wenig beachtet wurden bisher die Möglichkeiten von zentralnervösen Nebenwirkungen, die in erster Linie davon abhängen, ob die Substanz die Blut-Liquor-Schranke durchdringt sowie ob und inwieweit sie an die im Hirn in erster Linie für die kognitiven Funktionen verantwortlichen M1-Rezeptoren gebunden werden.

Das Spektrum beobachteter zentralnervöser Nebenwirkungen reicht von Schläfrigkeit und Konzentrationsschwäche über Gedächtnisstörungen bis zu Halluzinationen und Delirium. Dass lange Zeit darüber nicht berichtet wurde, mag auch daran liegen, dass Medikamentennebenwirkungen des zentralen Nervensystems vor allem die Verschlechterung der Gedächtnisleistung irrtümlich als altersbedingte Veränderungen missgedeutet wurden.

 

Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke

Ob Pharmaka überhaupt ins zentrale Nervensystem gelangen und wie hoch u.a. die antimuskarinerge Gesamtbelastung eines Individuums wird, hängt ua. von der Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke ab, die durch passive und aktive Mechanismen geregelt wird. Molekülgröße, Lipophilität, Polarität sind für den passiven Transport entscheidend.

 



Die Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke ist dabei keine konstante Größe, da die Durchlässigkeit offensichtlich mit dem Alter zunimmt und Begleiterkrankungen wie MS, Alzheimer und vaskuläre Demenz sowie der Typ-2-Diabetes diese verändert. Es gibt vergleichsweise nur wenige Studien zur Wirksamkeit der Antimuskarinika auf die Kognition.

 

Darifenacin, Oxybutynin

Weiland wurden die Effekte von Darifenacin bzw. Oxybutynin ER auf die Gedächtnisleis­tung bei über 60-jährigen Probanden untersucht. Diese randomisierte, placebokontrollierte, multizentrische Parallelgruppenvergleichsstudie ging über drei Wochen und schloss 150 gesunde ältere Probanden ein. Dabei ermittelte man deren kognitive Leis­tungsfähigkeit vor und am Ende der dritten Wochen über computerbasierte Testbatterien.

Die Ergebnisse zeigten, dass Da­rifenacin die Gedächtnisfunktion im Vergleich zu Placebo nicht beeinträchtigt. Hingegen führt die Oxybutynin-Extended-release Formulierung zu einer signifikanten Verschlechterung im Vergleich zu Placebo und Darifenacin. Die Verschlechterung der Gedächtnisleistung durch Oxybutynin ist wahrscheinlich auf die Interaktion mit zerebralen M1-Rezeptoren zurückzuführen.

 

Einschränkungen der Kognition schwer zu erkennen

Bemerkenswert ist, dass weder die Testpersonen noch der behandelnde Urologe die Einschränkungen der Kognition wahrnehmen konnten, obwohl diese in den entsprechenden Tests objektivierbar war. Oxybutynin diffundiert sehr leicht in das Gehirn, Tolterodin und Solifenacin deutlich weniger, Tros­piumchlorid als quarternäre Amoniumbase ist nicht liquorgängig, solange die Blut-Hirn-Schranke intakt ist. Darifenacin diffundiert zwar in das Gehirn. Es wird aber dort offensichtlich deutlich weniger an die für die Kognition wichtigen M1 Rezeptoren gebunden.

Besondere Vorsicht in Hinblick auf zentralnervöse Nebenwirkungen ist bei jenen Patienten gegeben, die wegen Gedächtnisstörungen bereits Cholinesterasehemmer einnehmen: Werden gleichzeitig liquorgängige Anticholinergika gegeben, ist die Blut-Liquor-Schranke defekt, dann können solche Anticholinergika den Effekt der Cholistenerasehemmer neutralisieren und damit die kognitive Situation bis zum Delir verschlechtern (Sink et al., 2008).

 

Fazit

Die Behandlung der Reizblase – der Überaktive Blase (OAB) – beruht somit auf zwei Säulen: einerseits der Verhaltenstherapie sowie der medikamentösen Therapie mit Anticholinergika (Antimuskarinika). Die Antimuskarinika unterscheiden sich in erster Linie durch ihr Nebenwirkungsprofil. Solche, die nicht oder nur wenig in das zentrale Nervensystem penetrieren. »Once daily«- oder Retard-Formulierungen – ggfs. Pflaster – haben Vorteile. Der Wert von M3-selektiven Substanzen wird noch diskutiert.




Literatur:

Peter Sam; Chad A. LaGrange. Anatomy, Abdomen and Pelvis, Bladder Detrusor Muscle. StatPearls [Internet]. Last Update: March 3, 2020.

Pannek J. Überaktive Blase – wann welche Therapie? [Overactive bladder-which treatment when?] [published correction appears in Urologe A. 2018 Feb 9;:]. Urologe A. 2017;56(12):1532‐1538. doi:10.1007/s00120-017-0522-1


Quellen:

Management der Reizblase: Verhaltenstherapie und Anticholinergika. Univ.-Prof. Dr. Helmut Madersbacher. MEDMIX 9/2008

https://medlineplus.gov/overactivebladder.html

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