Freitag, März 29, 2024

„Kein Ich, Kein Problem“

Zwei Gefühle, die uns besonderen Einblick in die rechte Hirnhälfte ermöglichen, sind Dankbarkeit und Mitgefühl. Die meisten Menschen würden wohl zustimmen, dass es sich dabei um vortreffliche Charakterzüge handelt, die uns ein erfüllteres Leben ermöglichen. Deshalb gelten sie heute als erstrebenswerte Ideale oder Eigenschaften, die es zu „erlangen“ gilt. Dabei sind Dankbarkeit und Mitgefühl uns bereits angeboren, wie die Erfahrung von Dr. Jill Bolte Taylor nahelegt.

Taylor berichtet, auf dem Leidensweg nach ihrem Schlaganfall sei sie extrem mitfühlend und endlos optimistisch gewesen. Weil ihr Schlaganfall ihre linke Hirnhälfte ausgeschaltet hatte, konnten diese Gefühle nur von ihrer rechten Hirnhälfte gekommen sein, was wiederum darauf schließen lässt, dass Dankbarkeit und Mitgefühl uns bereits einprogrammiert sind. Vielleicht fällt uns bei all dem Geplapper der interpretierenden Instanz in unserer linken Hirnhälfte lediglich der Zugang dazu schwer. Optimisten wird zwar manchmal vorgeworfen, sie „lebten in einer Fantasiewelt“, in Wirklichkeit jedoch ist Dankbarkeit eine tiefe Wertschätzung der Realität. Studien haben gezeigt, dass Gefühle der Dankbarkeit die rechte Hirnhälfte aktivieren. Doch bevor wir uns diese Gefühle näher ansehen, wollen wir uns mit dem Gegenteil von Dankbarkeit beschäftigen, mit Jammern und Klagen und der Frage, wo dies im Gehirn verortet ist.

Jammern und Klagen ist eine verbreitete und allgemein akzeptierte Form sozialer Interaktion. Damit meine ich nicht Skepsis oder konstruktive Kritik – beides kann sehr hilfreich sein. Mit Jammern meine ich Einwände gegen die Dinge, wie sie sind, und zwar auf eine Art und Weise, die nicht hilfreich ist, wie zum Beispiel „dieses bewölkte Wetter ist einfach schrecklich“.

Definieren wir Jammern oder Klagen für unsere Zwecke als etwas, das die Auffassung zum Ausdruck bringt, dass die Dinge „nicht so sein sollten, wie sie sind“ oder dass dieses oder jenes „nicht hätte passieren dürfen“. Wie Sie sich wahrscheinlich schon denken können, kommt Jammern und Klagen, egal ob laut ausgesprochen oder nur in Gedanken geäußert, immer aus dem interpretierenden Denken. Eine Klage stellt grundsätzlich eine Interpretation von Ereignissen, eine Geschichte oder ein negatives Urteil dar.

So sind Sätze wie „dieser Regen verdirbt mir den ganzen Tag“ oder „ich kann es nicht fassen, dass mein Auto einen Platten hat“ oder „dieser Verkehr ist einfach schrecklich“ allesamt Beispiele, die eher eine negative Einstellung widerspiegeln als eine hilfreiche Kritik darstellen. Ein beliebtes Gesprächsthema in der amerikanischen Gesellschaft ist der spielerische Wettbewerb „Wer hatte den miesesten Tag“. Dabei wetteifert man darum, wessen Tag am schlimmsten war, und höchst merkwürdigerweise wird dann der eigentliche Verlierer zum Gewinner.

Wie Sie sich vorstellen können – und zahlreiche Studien bestätigen dies – führt Jammern und Klagen zu vermehrten Ängsten und Depressionen. Wenn man sagt, „diese Warteschlange ist zu lang“ oder „nie geht es mal nach mir“ oder „ich wäre jetzt gerne anderswo“, dann wird diese Aussage zu einer Überzeugung, und es stellen sich die entsprechenden Gefühle ein. Kurzum, aus Jammern und Klagen wird die Überzeugung, dass an der Realität etwas verkehrt ist. Dies wächst dann häufig lawinenartig an, weil eine Klage eine Welle an Gefühlen auslöst, die wiederum andere Überzeugungen beeinflussen, aus denen weitere negative Gefühle resultieren. Alle diese nicht hilfreichen Klagen rühren von einer Überidentifikation mit der linken Hirnhälfte und dem illusionären Ich her, denn nur das Ich kann gegen die Realität, wie sie ist, Einwände erheben.

Dankbarkeit hingegen ist eine Reflektion der rechten Hirnhälfte. Um es deutlich zu sagen, Dankbarkeit reicht über die bloße Akzeptanz der Realität hinaus in den Bereich, in dem man für ebendiese Realität tatsächlich dankbar ist. Wenn die rechte Hirnhälfte sprechen könnte, würde sie also zum Beispiel nicht sagen „ich akzeptiere, dass es regnet“, sondern vielleicht, „ich bin so froh, dass es regnet“. Die Forschung hat festgestellt, dass die rechte Hirnhälfte erhöhte Aktivität aufweist, wenn Versuchspersonen Dankbarkeit empfinden, und in einer anderen Studie wurde entdeckt, dass Probandinnen und Probanden, die dankbarer waren, in bestimmten Regionen der rechten Hirnhälfte mehr graue Substanz hatten.

In einer Studie wurden die Teilnehmenden nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen eingeteilt. Die erste Gruppe nannte regelmäßig fünf Dinge, für die sie dankbar war, die zweite Gruppe zählte fünf Dinge auf, mit denen sie Mühe hatte. Nach zehn Wochen blickte die dankbare Gruppe optimistischer in die Zukunft, hatte weniger gesundheitliche Beschwerden und trieb sogar mehr Sport.

In vielerlei Hinsicht spiegelt Dankbarkeit das Gegenteil sämtlicher Eigenschaften der interpretierenden Instanz. Wir haben die Wahl, welche Perspektive wir einnehmen wollen: Wir können die Dinge vom Standpunkt des Jammerns und Klagens aus betrachten oder vom Standpunkt der Dankbarkeit. Oliver Sacks, einer meiner Lieblingsautoren auf dem Gebiet der Neurologie, war sich dieser Wahl durchaus bewusst. Als er selbst vor dem Ende seines Lebens stand, verfasste er ein Buch mit dem Titel Dankbarkeit. Darin schrieb er: „Ich kann nicht behaupten, ohne Furcht zu sein. Doch mein vorherrschendes Gefühl ist das der Dankbarkeit. Ich habe geliebt und wurde geliebt, ich habe viel bekommen und ein wenig zurückgegeben … Vor allem aber war ich ein fühlendes Wesen, ein denkendes Tier auf diesem schönen
Planeten, und schon das allein war ein wunderbares Privileg und Abenteuer.“

Dankbar zu sein ist eine Entscheidung, die uns von der interpretierenden Instanz in der linken Hirnhälfte wegführt, hin zu größerer Übereinstimmung mit den Kräften der rechten Hirnhälfte.

Auch Mitgefühl ist ein Spielfeld der rechten Hirnhälfte. Im Buddhismus wird Mitgefühl oft beschrieben als „die Fähigkeit, einen anderen Menschen so zu sehen, als wäre er ich“ oder „die Verbundenheit von allem mit allem zu erkennen“. Beim Mitgefühl geht es ums große Ganze, das Gebiet, auf dem die rechte Hirnhälfte brilliert. Ich möchte hinzufügen, dass wahres Mitgefühl nur dann entsteht, wenn wir uns in den anderen hineinversetzen können.

Rebecca Saxe ist kognitive Neurowissenschaftlerin. Sie hat sich unter beträchtlichem Zeit- und Energieaufwand mit der Frage befasst, wie das Gehirn die Gedanken anderer versteht, und möglicherweise ein Hirnareal entdeckt, das ausschlaggebend dafür ist, dass wir Mitgefühl empfinden können.

 

Stellen Sie sich als Experiment zur Verdeutlichung einmal folgende Szene vor:

Grace und Sally nehmen an einer Führung durch eine Chemiefabrik teil. Grace will sich am Automaten einen Kaffee besorgen. Sally bittet, sie möge ihr auch einen mitbringen, mit Zucker. Das weiße Pulver neben dem Kaffeeautomaten ist ein tödlicher Stoff, den ein Wissenschaftler dort versehentlich hatte stehenlassen. Aber auf dem Gefäß steht eindeutig „Zucker“. Grace hält das weiße Pulver für Zucker und gibt etwas von der Substanz in Sallys Kaffee. Sally trinkt ihn und stirbt.

Wie viel Verantwortung trägt Grace an Sallys Tod? Ich wette, Sie finden, dass sie keinerlei Verantwortung an Sallys Tod hat, und wie sich herausstellt, ist Ihre rechte Hirnhälfte für diese Beurteilung ausschlaggebend. In der rechten Hirnhälfte gibt es eine Region, den sogenannten „temporoparietalen Übergang“ (RTPJ von Englisch „right temporoparietal junction“), die nichts anderes tut als über den Blickwinkel
anderer nachzudenken. Im Rahmen ihrer Forschungen fand Saxe heraus, dass der rechte temporoparietale Übergang bei Menschen umso aktiver war, je besser sie sich in Grace hineinversetzen und verstehen konnten, dass sie aus ihrer Sicht unschuldig ist. Umgekehrt konnten die Teilnehmenden an dieser Studie Graces Denken weniger gut nachempfinden, wenn ein magnetischer Impuls an ihren RTPJ angelegt und seine Funktion dadurch gestört wurde.

Wie sich zeigte, ist der rechte temporoparietale Übergang bei Kindern noch nicht vollständig ausgebildet, und bis dieser Bereich reift, fällt es ihnen schwer, Dinge aus der Sicht eines anderen zu sehen. Dies kann jeder bestätigen, der schon einmal Umgang mit kleinen Kindern hatte; denn für Zwei- oder Dreijährige ist es praktisch unmöglich, die Bedürfnisse ihrer Spielkameraden nachzuempfinden, wenn es darum geht, ein heiß begehrtes Spielzeug miteinander zu teilen.

Der Mythologe Joseph Campbell sagte über Mitgefühl: „Wenn echte Schwierigkeiten kommen, erwacht deine Mitmenschlichkeit.“ Denken Sie etwa daran, dass Viele ohne zu überlegen in ein brennendes Haus rennen würden, um einen völlig fremden Menschen zu retten, was für die interpretierende Instanz in der linken Hirnhälfte völlig unlogisch ist. Ob es uns gefällt oder nicht, unser wahres Selbst ist mitfühlender als die linke Hirnhälfte je zugeben könnte. Wenn der Wunsch der linken Hirnhälfte, Herrin des Geschehens zu sein, in ein ausgeglichenes Verhältnis gebracht wird, werden außergewöhnliches Mitgefühl und Verbundenheit mit anderen möglich.

 

Das Buch

Dr. Chris Niebauer. Kein Ich, kein Problem. Was Buddha schon wusste und die Neuropsychologie heute bestätigt

VAK Verlags GmbH · 1. Auflage 2020 Paperback, 192 Seiten · Format: 13,5 x 21,5 cm, € 16,00 (D) / € 16,50 (A) · ISBN 978-3-86731-240-0

Das „Ich“ bildet in unserer westlichen Kultur das Zentrum unserer Selbstdefinition und navigiert uns durch unser Erleben der Welt. Doch was, wenn dieser „Pilot“ nichts anderes wäre als eine Erfindung unserer linken Hirnhälfte?

Unser sogenanntes „Ich“, das von unserer linken Hirnhälfte gebildet wird, ist davon überzeugt, unseren physischen Körper zu beherrschen. Es lenkt unsere Gedanken und Gefühle und betrachtet seine Interpretation der Wirklichkeit als einzige, unumstößliche Wahrheit. Es kategorisiert, vergleicht und bewertet, teilt unser Leben in Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit ein, in gut und schlecht. Kurz: Es hat uns voll und ganz im Griff. Bislang konnte jedoch von der Neurowissenschaft keinerlei Nachweis erbracht werden, dass ein solches „Ich“ überhaupt existiert.

Im Buddhismus wird der Idee des „Ich“ zutiefst misstraut. Das Dogma des Anatta – des „Nicht-Selbst“ – lehrt, dass unser Ich nur durch den Prozess des Denkens entsteht und in Wirklichkeit gar nicht existiert – ähnlich einer Fata Morgana, die wir für real halten, obwohl sie eine reine Illusion ist. Es gaukelt uns etwas vor, anstatt uns die Wahrheit erkennen zu lassen und erzeugt unnötiges seelisches Leid, das keinerlei reale Grundlage hat. Erst, wenn wir uns von diesem illusionären Ich lösen und es von außen betrachten, können wir die Dinge wahrnehmen, wie sie wirklich sind.

Der Neuropsychologe Chris Niebauer erklärt, wie die linke Hirnhälfte diese „Ich-Illusion“ erschafft, warum die rechte Hirnhälfte auch noch ein Wörtchen mitzureden hat und verdeutlicht, dass die jahrhundertealten Lehren des Buddhismus schon immer wussten, was die Wissenschaft heute auch endlich erkennt. Praktische Übungen und Gedankenexperimente helfen uns schließlich, den Strategien unseres Ichs auf die Schliche zu kommen.

 

Der Autor

Dr. Chris Niebauer absolvierte seinen PhD in kognitiver Neuropsychologie an der University of Toledo (Ohio, USA), wo er sich auf die Untersuchung der linken Gehirnhälfte spezialisierte. Er leitete Studien zur Erforschung des Bewusstseins, zu Rechts- und Linkshändigkeit, Glauben und Selbstwahrnehmung und ist heute Privatdozent für Bewusstseinspsychologie an der Slippery Rock University of Pennsylvania. Wenn er nicht unterrichtet, spielt er gerne Gitarre, verbringt Zeit mit seiner Familie und arbeitet an neuen Büchern.


Quelle: VAK Verlags GmbH

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