Donnerstag, April 25, 2024

Erhöhtes Risiko für Gewalt an Kindern in der Corona-Pandemie

Österreichische Gesellschaft für Kinderschutz Medizin warnt vor Risiko für Gewalt an Kindern und Jugendlichen in der Corona-Pandemie.

Die aktuelle Situation der Corona-Pandemie und der wiederholten Lockdowns erhöht das Risiko für Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung an Kindern und Jugendlichen massiv. Davor warnt jetzt die Österreichische Gesellschaft für Kinderschutz Medizin (ÖGKiM). Weltweiten Berichten zufolge führen die Lockdown-Maßnahmen der Corona-Pandemie mit Zuhausebleiben, Vermeiden sozialer Kontakte, wirtschaftlicher Unsicherheit und Stress in den Familien bei Kindern und Jugendlichen zu einem hohen Risiko für psychiatrische Erkrankungen, psychosoziale Störungen sowie Gewalt und Vernachlässigung.

 

Fehlende Kontakte zu Lehr- und Betreuungspersonal in der Corona-Pandemie führt zu sinkenden Gefährdungsmeldungen bezüglich Gewalt an Kindern und Jugendlichen

In der Corona-Pandemie reichen die Zahlen zu Meldungen von Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung an Kindern von einer 20%igen Zunahme (beispielsweise in Frankreich, Innocence In Danger 2020) bis zu einer deutlichen Reduktion (beispielsweise 42% in Dänemark), wobei hier eine direkte Relation zu geschlossenen Kindergärten, Schulen und Vereinen gesehen werden kann. So kommen normalerweise etwa 25% aller Gefährdungsmeldungen von Schulen und Kindertagesheimen (24% – Jahresbericht MAG ELF 2019; 20% USA). Somit reflektieren die Zahlen vermutlich keine Reduktion an Kindeswohlgefährdung, sondern spiegeln fehlende Kontakte zu Lehr- und Betreuungspersonal wider und als Konsequenz einen Rückgang an Meldungen.

Peterman et al (2020) beschreiben als Corona-Pandemie-bedingte Risiko-Faktoren für Gewalt in der Familie wirtschaftliche und finanzielle Ängste, soziale Isolation, Krisen und beschränkte Möglichkeiten, dem häuslichen Milieu zu entkommen. Seit langem ist der Zusammenhang zwischen Misshandlung und Missbrauch von Kindern mit Naturkatastrophen, Armut, Arbeitslosigkeit, körperlichen und psychiatrischen Erkrankungen der Eltern bekannt. Die genannten Risikofaktoren prägen die aktuelle COVID-19 Pandemie und belasten alle Bevölkerungsschichten, ganze Länder und Kontinente.

Die Anforderungen an Familien sind derzeit enorm, da Betreuung und Unterricht für die Kinder nach Hause verlegt wurden, Eltern entweder zur Arbeit müssen, in Home-Office sind oder sogar ihre Arbeit verloren haben. Nun kann es nicht immer Gelingen, dass sich alle zusammen in der häuslichen Umgebung abstimmen und unterstützen, mit dem möglichen Resultat von Scheitern, Verzweiflung und Gewalt.

 

Schulen und Kindergärten sind wichtige soziale Orte

Die Bedeutung der Schulen, Kindergärten, Betreuungseinrichtungen und Sportvereine beschränkt sich bei Weitem nicht nur auf Lernen und Testen. Die vielen Begegnungen schulen die Interaktionsfähigkeit und soziale Kompetenz als wichtige Faktoren für das Wohlbefinden von Kindern. Lehrkräfte und Betreuungspersonal lernen im Laufe eines Schuljahres ihre Schülerinnen und Schüler bzw. die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen kennen, fördern sie in ihrer Entwicklung und erkennen Sorgen und Nöte. Vor allem jene Kinder und Jugendlichen mit einem hohen Potenzial, alleine nicht zurecht zu kommen, überfordert zu sein, wegzudriften und Gefahr zu laufen, in Abhängigkeiten zu geraten oder physischer bzw. psychischer Gewalt ausgesetzt zu sein, müssen und können erkannt, unterstützt und behandelt werden.

 

Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen ebenso wichtig wie Schulstoff

Distance Learning hat die Schule verändert. Das primäre Ziel war es, den Schulstoff über Videomeetings und Arbeitsaufträge zu bewältigen und abzuprüfen. Doch noch wichtiger wäre es, von Beginn an das Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen zu erfragen und zu protokollieren, ihre Ängste und Schuldgefühle aufzunehmen und ihren Tagesablauf zu erfassen. Weiters sollten Lehrer und Betreuungspersonal ausgebildet sein, Risikofaktoren für Benachteiligung und Kindeswohlgefährdung rasch zu erkennen, gezielte Fragen über den Umgang und die Interaktion der Familienmitglieder zu stellen, um bei Hinweisen auf Gewalt und Vernachlässigung aktiv zu werden.

Verursacht durch die Ungewissheit über die Folgen der Pandemie für die eigene Familie und damit einhergehenden Veränderungen im Alltag, wie das Fehlen von Familienmitgliedern (Großeltern) und Freunden, der Schulklasse, von Freizeitaktivitäten, oder hinsichtlich des Erreichens wichtiger Meilensteine und der Stellung in der Gemeinschaft können sich psychische Erkrankungen manifestieren.

 

„Lieber mit Maske in der Schule, als alleine zuhause“

Dies sind alles eindeutige Gründe, weshalb Kinder und Jugendliche in eine geordnete Tagesstruktur in den Schulen, Betreuungseinrichtungen und Freizeitaktivitäten zurückkehren sollten. Nur so können ein Verlust an Wissen und Lernstoff sowie sozialen Kompetenzen verhindert, Ängste über eine ungewisse Zukunft mit weitreichenden wirtschaftlichen und sozioökonomischen Folgen wahrgenommen und der jungen Generation ausreichend Sicherheit und Schutz geboten werden. Es wäre falsch nun auf reines Nachholen von Lernstoff und Prüfungen zu setzen, vielmehr sollte ein offener Unterricht, mit der Möglichkeit sich wieder zu integrieren und in der Klasse zurechtzufinden, ermöglicht werden. Die lange Zeit im Lockdown muss aufgearbeitet werden, die Erwartungen müssen entsprechend der Situation und den Möglichkeiten der Schülerinnen und Schüler angepasst werden, um individuelle Lernziele auszuarbeiten, klar zu kommunizieren und erst dann einzufordern.

Die Einhaltung der Hygiene- und Schutzmaßnahmen sowie der regelmäßigen Covid-19 Testungen sind als fixer Bestandteil einer offenen Schule zu sehen. Den Kindern und Jugendlichen ist die Notwendigkeit der Maßnahmen klar und diese werden auch überwiegend gerne angenommen. Die Schülerinnen und Schüler wollen selbst „lieber mit Maske in der Schule, als alleine zuhause“ sein. Der Effekt der Masken zur Minimierung der Viruslast und deren gute Verträglichkeit wird mittlerweile auch durch Literatur bestätigt (Robert-Koch Institut 2020).

 

Kinder und Jugendliche müssen gehört werden

Schließlich ist festzuhalten, dass wir auf unsere Kinder, Jugendlichen und Studierenden hören und sie in Entscheidungen, die sie betreffen, einbinden müssen. Wie müssen ihnen vermitteln, dass mit all den Regeln ihre Bedürfnisse, ihre Entwicklung und ihre Zukunft ebenso im Mittelpunkt stehen und nicht vergessen werden, wie jene von Erwachsenen. Die Kinder und Jugendlichen sind unsere Zukunft, die wir als Gesellschaft brauchen. Sie alleine sind die Garantie für Entwicklung, Erfolg und Wohlstand in den kommenden Jahren. Alles was wir in unsere Kinder und Jugendlichen investieren, rechnet sich um ein Vielfaches.


Literatur:

Chandan JS, Taylor J, Bradbury-Jones C, Nirantharakumar K, Kane E, Bandyopadhyay S. COVID-19: a public health approach to manage domestic violence is needed. Lancet Public Health. 2020 Jun;5(6):e309. doi: 10.1016/S2468-2667(20)30112-2. Epub 2020 May 10. PMID: 32401709; PMCID: PMC7252171.

Griffith AK. Parental Burnout and Child Maltreatment During the COVID-19 Pandemic. J Fam Violence. 2020 Jun 23:1-7. doi: 10.1007/s10896-020-00172-2. Epub ahead of print. PMID: 32836736; PMCID: PMC7311181.

Martinkevich P, Larsen LL, Græsholt-Knudsen T, Hesthaven G, Hellfritzsch MB, Petersen KK, Møller-Madsen B, Rölfing JD. Physical child abuse demands increased awareness during health and socioeconomic crises like COVID-19. Acta Orthop. 2020 Oct;91(5):527-533. doi: 10.1080/17453674.2020.1782012. Epub 2020 Jun 23. PMID: 32573297.

Silliman Cohen RI, Bosk EA. Vulnerable Youth and the COVID-19 Pandemic. Pediatrics. 2020 Jul;146(1):e20201306. doi: 10.1542/peds.2020-1306. Epub 2020 Apr 28. PMID: 32345686.

S S Teo S, Griffiths G. Child protection in the time of COVID-19. J Paediatr Child Health. 2020 Jun;56(6):838-840. doi: 10.1111/jpc.14916. Epub 2020 May 29. PMID: 32468616; PMCID: PMC7283759.

Thomas EY, Anurudran A, Robb K, Burke TF. Spotlight on child abuse and neglect response in the time of COVID-19. Lancet Public Health. 2020 Jul;5(7):e371. doi: 10.1016/S2468-2667(20)30143-2. PMID: 32619538; PMCID: PMC7326432.

Ravens-Sieberer U, Kaman A, Erhart M, Devine J, Schlack R, Otto C. Impact of the COVID-19 pandemic on quality of life and mental health in children and adolescents in Germany. Eur Child Adolesc Psychiatry. 2021 Jan 25:1–11. doi: 10.1007/s00787-021-01726-5. Epub ahead of print. PMID: 33492480; PMCID: PMC7829493.

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