Donnerstag, April 25, 2024

Gesetz Primärversorgung darf keine offenen Baustellen haben

Österreichische Ärztekammer kritisiert Schnellschuss der Politik. Präsident Wechselberger: „Gesetz rund um Primärversorgung nicht über den Zaun brechen“.

Einen so wichtigen Bereich wie die Gesundheitsreform ohne Rücksicht auf die vielen fundierten, kritischen Stellungnahmen und ohne Debatte durch das Parlament zu jagen, sei nicht akzeptabel, so Artur Wechselberger, Präsident der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK). „Wir haben in unzähligen Runden gemeinsam verhandelt und waren bemüht, einen Kompromiss zu erzielen. Das jetzige einseitige Vorgehen, bevor ein Konsens in wichtigen Punkten gefunden wurde, ist ein Schnellschuss, der auf den Rücken der Patientinnen und Patienten wie auch aller in der Primärversorgung Tätigen ausgetragen wird. Ein Gesetz darf keine offenen Baustellen haben“, so Wechselberger zu den Auswirkungen des Gesundheitsreformumsetzungsgesetzes (GRUG) und bezugnehmend auf die politischen Zusagen, nicht über die Bedenken der Ärzteschaft „drüberfahren“ zu wollen. Das GRUG regelt unter anderem die Primärversorgung in Österreich und soll in einer Sondersitzung des Nationalrates als Initiativantrag eingebracht und noch vor dem Sommer beschlossen werden.

Die ÖÄK sieht grundlegende Aspekte, die für die dringend notwendige Stärkung der Primärversorgung unabdingbar sind, nicht ausreichend berücksichtigt:  Maßnahmen zur Motivation für schon freiberuflich in der Primärversorgung tätige Ärzte, sich zu einer Primärversorgungseinheit zusammen zu schließen, fehlen, ebenso wie attraktive Arbeitsbedingungen als Einladung an junge Ärztinnen und Ärzte. Dazu gehört auch die Möglichkeit der Anstellung von Ärzten in Gruppenpraxen. Der Druck, sich in Zentren zusammenzuschließen, widerspricht den Grundsätzen der Primärversorgung nach Wohnortnähe und der breiten Einbeziehung der nichtärztlichen Gesundheitsberufe.  „Es ist richtig und wichtig, sich darüber Gedanken zu machen und gemeinsam zu erarbeiten, wie man Primärversorgung in unserem Land stärken kann. Im aktuellen Gesetzesentwurf sind allerdings zu viele wichtige Punkte noch nicht abgearbeitet“, so Wechselberger, der auch ohne Primärversorgungsgesetz die Sozialversicherungen in der Pflicht sieht, die Versorgungsstrukturen zu verbessern. Fehlende Kassenverträge für Ärztinnen und Ärzte aber auch für nichtärztliche Gesundheitsberufe werde auch ein neues Gesetz nicht herbeizaubern.

Der ÖÄK-Präsident kritisiert auch die überbordende Bürokratie, die der neue Gesetzestext mit sich bringt: „Auf 16 Seiten wird nun zu regeln versucht, was bisher auf eineinhalb Seiten im Kassenrecht klar dargestellt war. Die Politik reagiert nicht auf die Realität der Leistungserbringer, sondern schafft Potemkinsche Dörfer, die eine Verbesserung nur vorgaukeln. Koordination und Vernetzung könnten nur dann funktionieren, wenn alle beteiligten Gesundheitsberufe von administrativen Belastungen freigespielt seien, Motivation und Unterstützung in der Zusammenarbeit erhalten und sich ganz der Arbeit am Patienten widmen können, führte Wechselberger aus.

 

Fehlende Motivation für freiberufliche Ärzte

Um in eine Primärversorgungseinheit (PVE) wechseln zu können, müssten niedergelassene Vertragsärzte ihre bestehenden Kassenverträge aufgeben und sich auf eine gemeinsame Gesellschaft mit anderen Ärzten einlassen. Eine Rückkehr in den Einzelvertrag wäre schwierig: So sehe der aktuelle Gesetzesentwurf bis zum Jahr 2025 eine Rückkehrmöglichkeit für fünf Jahre, ab 2025 überhaupt nur für drei Jahre vor. Ganz grundsätzlich würden niedergelassenen Ärzten keine Benefits geboten: „Warum sollte dieser Vertrag besser sein als der Gesamtvertrag, wenn kein zusätzliches Geld ins System fließt und die gesamte organisatorische und wirtschaftliche Verantwortung weiterhin den Ärzten aufgelastet wird?“, so Wechselberger.  Auch vermisst der ÖÄK-Präsident im aktuellen Gesetzesentwurf Signale für die Angehörigkeit zum freien Beruf.

 

Wohnortnähe verschwindet

Auch die wohnortnahe Versorgung sei ein wunder Punkt. „Wir wissen aus Befragungen, dass die Wohnortnähe für die Bevölkerung enorm wichtig ist. Der Hausarzt ist für einen Großteil der Menschen in Österreich nach wie vor die erste Anlaufstelle bei gesundheitlichen Problemen“, führte Wechselberger aus.  Aus ÖÄK-Sicht könnten Zentren allenfalls in Ballungsräumen die Versorgung sinnvoll ergänzen. Österreich sei aber ländlich bis kleinstädtisch strukturiert. Davon abgesehen würden die Ärzte, die bereit wären, ihre Praxen für die Arbeit in einem Zentrum aufzugeben, als wohnortnahe Hausärzte an ihrem früheren Standort fehlen, warnte Wechselberger. Sollten sich nicht genügend freiberufliche Ärzte zur Gründung von Primärversorgungseinheiten finden, würden stattdessen Ambulatorien, z.B. von Krankenkassen, die Versorgung übernehmen.

 

Keine Einbindung der nichtärztlichen Gesundheitsberufe

„Im Mittelpunkt der Primärversorgung steht der unabhängige Hausarzt, idealerweise in enger Zusammenarbeit mit anderen Ärzten und nichtärztlichen Gesundheitsberufen. Das Gesetz würde jedoch die Kooperation aller anderen Gesundheitsberufe wesentlich erschweren“, sagte der ÖÄK-Präsident. Zeitgemäße Primärversorgung setze aber ein ausreichendes Angebot an nichtärztlichen Gesundheitsberufen voraus. Hier werde eine wichtige Chance auf moderne und bessere Patientenversorgung verspielt, so Wechselberger.

 

Keine Anstellung von Ärzten

Der aktuelle Gesetzesentwurf sehe keine Anstellung von Ärzten in PVE vor, wie sie die ÖÄK schon seit Jahren für Gruppenpraxen fordere. Dass Gruppenpraxen bis heute keine ausreichende Akzeptanz finden, liege auch daran, dass dort keine Ärzte angestellt werden dürfen. Das solle jetzt gegen jede Logik auch für PVE gelten. „Die Anstellung ist ein wesentlicher Anreiz, um jene Ärztinnen und Ärzte zu gewinnen, die das unternehmerische Risiko einer Praxisgründung nicht auf sich nehmen oder nicht in Vollzeit tätig sein wollen“, so Wechselberger.

 

Weniger ist NICHT mehr

Bei der Pressekonferenz wiederholte Wechselberger das Forderungsprogramm der Ärzteschaft, das im Zuge der Informationskampagne „Gesundheit! Weniger ist NICHT mehr“ ausgearbeitet wurde:

  • Keine weiteren Einsparungen sondern mehr Mittel für einen großzügigen Ausbau der Primärversorgung.
  • Ein breites wohnortnahes Angebot und individuelle Wahlmöglichkeiten statt einheitlicher Staatsmedizin.
  • Das, was im Gesundheitssystem gut funktioniert, endlich ausbauen und weiterentwickeln: Tausende engagierte Hausärztinnen und Hausärzte erbringen trotz widriger Rahmenbedingungen ausgezeichnete Versorgungsleistungen. Sie müssen unterstützt werden!

„Wir Ärztinnen und Ärzte wollen die Zukunft gestalten, und zwar als Angehörige eines freien Berufs. Wir brauchen Reformen, die sich nach den Bedürfnissen der Bevölkerungen sowie den Möglichkeiten der Wissenschaft und Medizin richten. Schnellschüsse und über den Zaun gebrochene Aktionen der Politik werden uns nicht nachhaltig weiterbringen“, so der ÖÄK-Präsident abschließend. (bs)

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