Dienstag, April 23, 2024

NS-Vergangenheit der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM)

Ab 2015 hat ein Team unabhängiger Historiker anhand von umfangreichen Quellenstudien die Geschichte und NS-Vergangenheit Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) aufgearbeitet.

Als Paul Martini als Vorsitzender im Mai 1948 in Karlsruhe den ersten Nachkriegskongress der DGIM eröffnete begann er seine Ansprache mit den Worten: „Düstere Erinnerungen, viele Sorgen und einige Hoffnungen bewegen heute unsere Herzen. Ein Weltbild ist erschüttert worden.“

Im Vordergrund seiner Sorgen standen dabei das Wesen und der Charakter des Arztberufes, die Reform des Medizinstudiums und die drohende deutsche Teilung. Immerhin verweist er auf das „Betrübliche und deprimierende Schauspiel wieder einmal ärztliche Rechtfertigungsversuche für politische Maßnahmen erleben zu müssen.“

Damit spielt er aber keineswegs auf die von Ärzten verantworteten Geschehnisse in der Zeit des NS-Regimes an, sondern auf die seiner Meinung nach unverantwortliche Verharmlosung der Tuberkulosegefahr im Jahr 1948. Hoffnung auf eine Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit machten allein seine Grußworte am Ende der Rede in denen er an Leo Lichtwitz erinnerte‚ „dessen Leitung (der DGIM im Jahr 1933) in allzu großer Nachgiebigkeit vor der neuen Herrschaft dann leider aus der Hand genommen wurde“ und seine Grußworte an den aus der Emigration zurückgekehrten Ernst Wollheim und den in den USA im Exil gebliebenen ‚Freund‘ Siegfried Thannhauser.

 

Eine solche Aufarbeitung erfolgte aber in der Nachkriegszeit nie.

Den heute diskutierten Männern wurde ihre Ehrenmitgliedschaft bis in die späten siebziger Jahre verliehen und im von H.G. Lasch und B. Schlegel herausgegebenen Band der Eröffnungsreden der Vorsitzenden von 1882-1982 wurden alle Lobpreisungen an den „Führer“ und die „Neue Ordnung“ oder die Schwerpunktsetzungen der Kongresse in Richtung Rassenhygiene und die von Himmler protegierte völkische Medizin einfach herausredigiert.

Nicht nur ein ganzes Land, sondern auch unsere wissenschaftliche Fachgesellschaft hatten sich auf eine kollektive Amnesie verständigt. Als Generation mit dem Glück einer späten Geburt fällt es leicht, sich über die Handlungen und Haltungen im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit zu erheben und diese zu verurteilen.

 

Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin hat mit der Aufarbeitung ihrer NS-Vergangenheit lange gewartet und sich diese sicher nicht leichtgemacht.

Ab 2015 wurde ein Team unabhängiger Historiker (Ralf Forsbach, Köln und Hans-Georg Hofer, Münster) vom Vorstand und seinem Generalsekretär Ulrich Fölsch damit beauftragt, anhand von umfangreichen Quellenstudien die Geschichte der DGIM in der Zeit des NS-Regimes aufzuarbeiten. Die ersten Ergebnisse dieser Forschung wurden 2018 in dem Band ‚Internisten in Diktatur und Demokratie. Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin 1933-1970‘ vorgelegt und von einer Ausstellung in Wiesbaden begleitet. Die Frage des Umgangs mit belasteten Mitgliedern und Ehrenmitgliedern wurde danach ebenso diskutiert wie die mit den Opfern.

 

Geschichte lässt sich nicht weißwaschen oder ungeschehen machen.

Eine ‚condamnatio memoriae‘ (in Rom üblich durch nachfolgende Kaiser oder Usurpatoren) mittels Entfernung von Denkmälern und Streichungen aus Veröffentlichungen und Webseiten kam deshalb nicht in Frage. Eine Distanzierung von den Handlungen und Haltungen bei gleichzeitiger Benennung der Verfehlungen und Grenzübertretungen in entsprechenden Publikationen schien zunächst ein gangbarer Weg.

Bei immer klarer werdender historischer Faktenlage zu einigen Ehrenmitgliedern hat sich der Vorstand letztlich entschieden, einen Schritt weiter zu gehen. Man hat Ehrenmitgliedschaften posthum bei Individuen aberkannt. Und zwar bei jenen, die sich vorsätzlich und unzweifelhaft gegen andere Menschen, deren Würde, Gesundheit und Leben vergangen haben.

Wer bewusst Kollegen, anderen Mitgliedern unserer Fachgesellschaft oder einfach anderen Mensch auf Grund ihrer Herkunft geschadet hat, ist für die DGIM als Ehrenmitglied nicht tragbar. Das schuldet man dem Gedenken an die Opfer, den Nachfahren und unserem Selbstverständnis.

Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) wollte mit der aktuellen Entscheidung ein deutliches Zeichen setzen. In einer Zeit, in der Menschenwürde, Freiheit und Demokratie für manchen keine Selbstverständlichkeit mehr sind.

 

Alfred Schittenhelm (1874 – 1954, Kongresspräsident 1933, 1934, Ehrenmitgliedschaft 1949)

Schittenhelm war glühender Unterstützer des Nationalsozialismus. Nur Wochen nach der Machtübernahme drängte er den gewählten Vorsitzenden der DGIM Leopold Lichtwitz aus dem Amt. Dann übernahm Schittenhelm dieses selbst und richtete dessen fast fertig geplanten Kongress aus. Den folgenden ebenso, damit seine Handschrift mit einem Schwerpunkt auf rassenhygienische Themen erkennbar wurde.

Im Jahr 1934 wechselte er nach München und eröffnete in seiner Klinik unmittelbar eine Abteilung für Erbpflege und Erbforschung (Rassenhygiene), der nur deshalb kein nachhaltiger Erfolg beschieden war, weil im gleichen Gebäude bereits das von der Gauleitung bevorzugte Institut für Rassenhygiene der Medizinischen Fakultät tätig war und die hausinterne Konkurrenz im Wettbewerb um Zwangssterilisationen und die Auflösung von Ehen rassisch minderwertiger klein hielt.

Der Verdacht seiner Beteiligung an Menschenversuchen zum Proteinmangel, bei deren Veröffentlichung er als Mitautor fungierte, konnte nie ausgeräumt werden. In München war er prominentes Mitglied der SSClique (im Rang eines Sturmbannführers).

 

Alfred Schwenkenbrecher (1875-1963, Kongresspräsident 1935, Ehrenmitgliedschaft 1956)

Schwenkenbrecher war Nationalsozialist und richtete den Kongress komplett auf die Bedürfnisse der neuen Herrscher aus, in dem er die von Himmler protegierte ‚Neue Deutsche Heilkunde‘ (im Gegensatz zur Schulmedizin), Biologische Medizin und kriegswichtige Themen in den Vordergrund rückte. Auch NS-Reichärzteführer Gerhard Wagner wurde prominent positioniert.

Er war maßgeblich am Ausschluss des geschätzten Ausschussmitgliedes Julius Bauer beteiligt, der in der Schweizer Medizinischen Wochenschrift die NS-Rassenhygiene als wissenschaftlichen Unfug entlarvt und die Praxis der gesetzlichen Zwangssterilisation in Deutschland in Frage gestellt hatte. Bauer musste nach dem Anschluss Österreichs in die USA fliehen und kehrte nie zurück.

Ganz anders als der Kongress von 1935 verlief dagegen die von Richard Sibeck ein Jahr später ausgerichtete Jahrestagung, die sich keineswegs an den Wünschen des NS-Regimes orientierte.

 

Georg Schaltenbrand (1897-1997, Ehrenmitgliedschaft 1976)

Schaltenbrand war Neurologe und zeitlebens von der infektiösen Genese der Multiplen Sklerose überzeugt. Zum Beweis übertrug er menschlichen Liquor auf Affen und später diesen Affenliquor auf 35 Patienten einer psychiatrischen Klinik und 20 Schwerkranke. Zwei dieser Patienten starben.

Schaltenbrand war sich der ethischen Fragwürdigkeit seiner Experimente durchaus bewusst, die auch nach den gesetzlichen Regelungen von 1935 in Deutschland verboten waren. Wegen seiner Humanexperimente wurde er 1945 seines Amtes enthoben, später aber politisch rehabilitiert.

 

Hans Dietlen (1879-1955, Kongresspräsident 1940, Ehrenmitgliedschaft 1950)

Dietlen hatte sich die NS-Zwangsterilisationspolitik zu eigen gemacht und dafür die in seinen Augen humane Methode durch Röntgenbestrahlung weiterentwickelt. Er war verantwortlich beteiligt an Zwangsabtreibungen von Töchtern eines kommunistischen Widerstandkämpfer. Und zwar in einem Fall mit Todesfolge von Mutter und Kind. Weiter kam es zu Zwangssterilisationen von Frauen mit Verbindung zu farbigen Besatzungssoldaten, was nicht einmal durch die NS-Gesetzgebung gedeckt war.

 

Siegfried Koller (1908-1998, Ehrenmitgliedschaft 1978)

Koller war seit 1933 Mitglied der NSDAP und der SA. Als Experte für Erbmathematik setzte er sich dezidiert für eine Verschärfung der Gesetze zu Rassenhygiene ein. Zudem machte er noch 1941 einen Vorschlag für ein ‚Gesetz über die Aberkennung der völkischen Ehrenrechte zum Schutze der Volksgemeinschaft‘. Koller war maßgeblich verantwortlich dafür, dass den rassehygienischen Intentionen des NS-Regimes ein wissenschaftlicher Anstrich verliehen wurde.

Nach der Haftentlassung aus einem sowjetischen Militärgefängnis 1952 machte Koller in der Bundesrepublik eine steile akademische Karriere. Er gilt zu Recht als späterer Vater der Medizinischen Informatik, der Biometrie und der Epidemiologie. Seine Schülern haben zahlreiche Lehrstühle besetzt. Für zwei weitere Ehrenmitglieder ist die Forschung aktuell nicht abgeschlossen und mit weiteren Erkenntnissen in den Quellen zu rechnen. Deshalb kann zum heutigen Zeitpunkt keine verantwortungsvolle Entscheidung über eine Aberkennung der Ehrenmitgliedschaft getroffen werden.

 

Gustav von Bergmann (1878-1955, Ehrenmitgliedschaft 1949)

Von Bergmann war nie Mitglied der NSDAP, wusste aber seine beruflichen Chancen in der Zeit des NS-Regimes bestens zu nutzen. Die Gelegenheit 1937 auf einen Lehrstuhl in Zürich zu wechseln, schlug er wegen der dort schlechteren Arbeitsbedingungen aus. Als Prodekan an der Charité setzte er die Entlassung von Kollegen jüdischer Abstammung nüchtern durch. Nicht ohne sich mehrfach im Ministerium zu vergewissern, ob auch wirklich Halbjuden und Vierteljuden mit dem Erlass gemeint seien.

Wo immer es beim NS-Regime Anstoß hätte erregen können, ließ er jüdische Kollegen und enge Mitarbeiter fallen. Zudem ließ er auch ihre Büsten entfernen. Sowohl öffentliche wie private Dokumente spiegeln eine kaum zu fassende Persönlichkeit, die sicher für die Zeitgenossen so wenig einzuschätzen war wie für uns heute. Bis auf seinen offensichtlichen Opportunismus.

Von Bergmanns Sohn Fritz war in der Berliner Widerstandsgruppe ‚Onkel Emil‘ aktiv, was seinem Vater kaum verborgen geblieben sein kann. Weitere Forschung ist erforderlich, um die Motive, Haltungen und Handlungen dieses Mannes einschätzen zu können.

 

Felix Lommel (1875-1968, Ehrenmitgliedschaft 1965)

Als langjähriger Direktor einer Tuberkuloseklinik in Thüringen setzte sich Lommel schon vor der NS-Zeit nachdrücklich für eine zwangsweise Asylierung von offen Tuberkulosekranken ein. Und zwar insbesondere von „asozialen“ Tuberkulose-Kranken. Dies schloss eine beabsichtige Unterversorgung mit Nahrung in gefängnisähnlichen Anstalten und einer hohen Todesrate der „Schädlinge“ ein. In wieweit Lommel direkt daran beteiligt war, dies intendierte oder billigend in Kauf nahm oder sein Schüler Kayser- Petersen die treibende Kraft darstellte, muss weitere Forschung an Primärquellen aufklären.


Quelle:

STATEMENT » Gegen das Vergessen: Wie die DGIM mit ihrer NS-Vergangenheit umgeht. « Professor Dr. med. Markus Lerch, Vorsitzender der DGIM 2021/2022 und Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des LMU Klinikums München. Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e. V. (DGIM), Oktober 2021.

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