Sonntag, März 17, 2024

Antidepressiva und Psychotherapie: kombiniert sehr effektiv

Hausärzte und Internisten verordnen oft Antidepressiva, viel zu selten verschreiben dazu Fachärzte auch eine zusätzliche Psychotherapie.

Die Verordnungen von Antidepressiva haben in den letzten Jahren stetig zugenommen. Beispielsweise zeigten statistische Untersuchungen für Deutschland im Jahr 1991 etwa 200 Mio. verordnete Tagesdosierungen, ausreichend für eine Jahrestherapie von etwa 550.000. Patienten, im Jahre 2016, verbrauchten hingegen knapp 1,4 Mrd. Tagesdosierungen. Eine Zunahme um das Siebenfache in einem Zeitraum von 25 Jahren. Die Menge der aktuell verordneten Antidepressiva würde derzeit ausreichen, um 3,8 Mio. Menschen ein ganzes Jahr mit einer ausreichenden Dosierung zu behandeln. Die Zahlen zeigen, dass in der heutigen Zeit die Ärzte, vor allem Allgemeinmediziner und Internisten, gegen psychische Probleme, Angst, Depression etc. hauptsächlich Antidepressiva verschreiben, doch viel zu selten kommt eine ergänzende Psychotherapie zum Einsatz.



So zeigt beispielsweise eine aktuelle Cochrane-Analyse, dass eine Psychotherapie zusätzlich zur Behandlung mit Antidepressiva, bei depressiven Symptomen sowie vor allem bei Patienten mit Therapie resistenter Depression vorteilhaft ist. Außerdem scheint es gute Mittel- und Langzeiteffekte zu geben.

 

Antidepressiva statt Psychotherapie

Interessant ist die Verteilung der angewandten Antidepressiva. Eine auffällige Steigerung bei den Verordnungen begann mit der Vermarktung der Serotoninwiederaufnahmehemmer, den sogenannten SSRI, deren bekanntester Wirkstoff Mitte der 1980er Jahre das Fluoxetin war. Schon zu Beginn der Vermarktung wurde erhebliche öffentliche „Propaganda“ für diese Mittel von Firmen und Experten betrieben.

Vor allem der amerikanische Psychiater Peter Kramer hat sich besonders zugunsten der Anwendung von Fluoxetin engagiert – aus seiner Sicht ein wirksames Mittel aus der Gruppe der Antidepressiva, um in Zukunft auf Verfahren der Psychotherapie verzichten zu können.

Durch Fluoxetin würde aus dem hässlichen Entlein »Medikamententherapie für die Psyche« ein schöner Schwan, so sein Versprechen. Das Motto insgesamt: Don’t worry, be happy. Viele der Diskussionen in dieser Zeit erinnerten an die Vermarktung von Valium Anfang der 1970er Jahre, das als rosarote Brille für die Psyche beworben wurde.

Allerdings wurden die raschen Steigerungsraten der SSRI, die im Vergleich zu den trizyklischen Antidepressiva als besser verträglich galten, kritisch kommentiert. Denn man konnte nicht ausschließen, dass neue Anwendungsgebiete – wie beispielsweise Essstörungen oder Zwangssyndrome – zu diesem Markterfolg beitrugen.

Die Antidepressiva hat man dann vor allem auch in den USA für Kinder verordnet. Das hatte als Auswirkungen Verhaltensstörungen zur Folge, die dann ihrerseits eine weitere Behandlung mit Psychopharmaka erforderlich machte.



 

Antidepressiva – die am häufigsten verordnete Psychopharmaka-Gruppe

Antidepressiva sind mit etwa 60 Prozent die mit Abstand größte Gruppe innerhalb der Psychopharmaka, noch immer steigen die Mengen an. Besonders häufig werden Antidepressiva von Allgemeinmedizinern und Internisten verordnet, die nahezu die Hälfte der Menschen mit einer Depressionsdiagnose behandeln, wie Krankenkassendaten zeigen.

Eine fachärztliche Betreuung von Menschen, die unter Depressionen leiden, wäre sicherlich die bessere Alternative. In der Zwischenzeit ist aber eine gewisse Rationalität in der Bewertung der Antidepressiva eingekehrt.

So weisen beispielsweise die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) und die S3-Versorgungsleitlinie »unipolare Depression« darauf hin, dass Antidepressiva bei mild ausgeprägten Depressionen nicht mehr als Mittel der Wahl gelten.

Selbst bei mittelschweren Depressionen bestehen offenbar begründete Zweifel am Nutzen von Antidepressiva, so dass sie in Kombination mit einer Psychotherapie für die Behandlung schwerer Depressionen vorbehalten sein sollten.

 

Keine oder fehlerhafte Diagnosen

Einerseits wird ein Großteil der Antidepressiva ohne die Begründung einer einschlägigen Depressionsdiagnose verordnet, andererseits werden Depressionen sehr viel häufiger diagnostiziert als behandelt. Frauen sind sehr viel häufiger betroffen als Männer.

Neben den geschlechtsspezifischen Unterschieden gibt es auch große regionale Disparitäten. So werden in Großstädten deutlich häufiger Depressionsdiagnosen gestellt als in ländlichen Regionen, in den alten Bundesländern deutlich mehr als in den östlichen Regionen.



Die Frage, ob hier Unter- und Überversorgung oder eventuell auch Fehlversorgung vorliegt, kann aber aufgrund von Krankenkassendaten allein nicht geklärt werden. Da zwar Diagnosen vorliegen, aber keine weiteren klinischen Angaben zur Schwere der Depression verfügbar sind.

 

Psychotherapie selten

Andererseits zeigen alle Auswertungen von Kassendaten die unübersehbare Dominanz der pharmakotherapeutischen Interventionen. Und zwar Entgegen der Empfehlung, auch Verfahren der Psychotherapie in die Behandlung mit Antidepressiva einzubinden. Nur bei jeder sechsten weiblichen Versicherten im mittleren Alter mit einer Depressionsdiagnose und einer Antidepressiva-Verordnung und nur bei jedem fünften männlichen Versicherten werden Psychotherapie-Verfahren abgerechnet.

Bezogen auf die alleinigen Depressionsdiagnosen liegt der Anteil von solchen nicht medikamentösen Verfahren nur bei rund zehn Prozent, bei Männern noch deutlich darunter. Ohne Psychotherapie ist vor allem bei Männern das Risiko auch höher, dass sie Antidepressiva absetzen.

Unter dem Strich hat man die die Wirksamkeit der Psychotherapie in vielen Studien untersucht und dabei auch ihre gute Wirkung nachgewiesen. Nicht nur wegen des bekannten begrenzten Nutzens vieler Antidepressiva sollte man im Sinne der Patienten und deren adäquaten Versorgung die Empfehlungen der Leitlinie zur Behandlung von Depressionen stärker berücksichtigen.

 

Antidepressiva und Psychotherapie verschreiben

Die Leitlinie empfiehlt ausdrücklich auf die Anwendung der Psychotherapie im Zusammenhang mit einer Antidepressiva-Therapie. Die Umsetzung solcher Empfehlungen sollten Ärzte daher auch im Alltag der Versorgung berücksichtigen.

Schließlich geht es auch um die Finanzierung einer sinnvollen Leistung in der Behandlung! Solche Analysen könnten letztlich die Akzeptanz der Psychotherapie in der Behandlung des Volksleidens Depression fördern. Sie könnten auch in den Diskussionen mit Kassen, dem Gemeinsamen Bundesausschuss und den verantwortlichen Gesundheitspolitikern helfen.




Literatur:

Alvarez-Mon MA, Fernandez-Lazaro CI, Ortega MA, Vidal C, Molina-Ruiz RM, Alvarez-Mon M, Martínez-González MA. Analyzing Psychotherapy on Twitter. An 11-Year Analysis of Tweets From Major U.S. Media Outlets. Front Psychiatry. 2022 May 18;13:871113. doi: 10.3389/fpsyt.2022.871113. PMID: 35664489; PMCID: PMC9159799.

Ijaz S, Davies P, Williams CJ, Kessler D, Lewis G, Wiles N. Psychological therapies for treatment-resistant depression in adults. Cochrane Database Syst Rev. 2018;5(5):CD010558. Published 2018 May 14. doi:10.1002/14651858.CD010558.pub2


Quelle:

Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin

Statement »Immer mehr Depressionen, immer mehr Psychopharmaka. Warum die Psychotherapie bislang zu wenig in der Behandlung genutzt wird und was man dagegen tun kann.« Professor Dr.rer. nat. Gerd Glaeske. Leiter der Abteilung für Gesundheit, Pflege und Alterssicherung am Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen

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