Samstag, April 20, 2024

Alt, multimorbide und zu teuer?

Die wichtige Rolle der Allgemeininternisten ist es, dass multimorbide, komplexe Patienten ambulant und im Spital eine koordinierte Betreuung erhalten.

Die meisten Leute, die Dienstleistungen im Gesundheitswesen in Anspruch nehmen, sind multimorbide, das heißt, sie haben mehrere Gesundheitsprobleme gleichzeitig. Dies ist wichtig für Patienten und die wesentlichste Herausforderung für alle Stakeholder im Gesundheitssystem. Etwa 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung und etwa 90 Prozent der auf einer Inneren Medizin hospitalisierten Patienten sind multimorbide. Die Anzahl der Diagnosen bei einer einzelnen Person steigt mit dem Alter stark an. Dies ist Folge besserer sozialer Bedingungen und dem damit verbundenen besseren Überleben sowie Resultat der erfolgreichen Bekämpfung von akuten und chronischen Erkrankungen. Patienten erleben somit eine zweite, dritte und weitere Erkrankung.

Die Komplexität der Herausforderungen und die Kosten steigen mit der Anzahl gleichzeitig bestehender Erkrankungen weit überproportional. Dies liegt unter anderem an der zunehmenden Komplexität und den therapeutischen Konflikten zwischen an Einzelerkrankungen orientierten Behandlungsprozessen. Zum Beispiel sollte die Blutverdünnung, die einen Patienten wegen einer Herzerkrankung erhält, wegen gleichzeitiger Darmblutung abgesetzt werden. Ein Dilemma, dessen Auflösung wesentliche personelle, materielle, zeitliche und finanzielle Ressourcen beansprucht.

Ärztliche Arbeit verschiebt sich damit auch von schematischer Behandlung von Einzelerkrankungen zur Koordination und Auflösung von Dilemma-Situationen, also weg vom Patientenbett zum interdisziplinären, interprofessionellen Gespräch und zum koordinierenden Führen. Dies setzt auch die „Connectivity“ der den Patienten begleitenden elektronischen Systeme voraus, zum Beispiel der Krankengeschichten.

In alternden Bevölkerungen treten Mehrfacherkrankungen in typischen Konstellationen auf, in sogenannten Clustern. Zum Beispiel stürzt eine ältere Patientin und bricht sich die Hüfte. Sie zeigt einen schlurfenden Gang, ist mangelernährt, leicht dement, depressiv, verwitwet und vereinsamt. In dieser Situation genügt die alleinige Behandlung der gebrochenen Hüfte nicht. Es braucht auch eine Behandlung der Depression und der vielleicht wegen Mangelernährung aufgetretenen Demenz, neben der körperlichen Rehabilitation. Ignoriert man die Gründe, die zum Sturz und zur gebrochenen Hüfte führten, muss man gewärtigen, dass die Patientin in wenigen Wochen nach erneutem Sturz wieder wegen einem Bruch des Oberarmknochens in das Spital eintritt. Ein Ignorieren der Mehrfacherkrankung führt damit zu fehlender Nachhaltigkeit und höheren Sekundärkosten sowie letztlich einer entmenschlichten und röhrenförmig auf superspezialisierte, betriebswirtschaftlich lohnende Kompetenzen eingegrenzte Medizin. Bedauerlicherweise berücksichtig das in der Schweiz erst kürzlich eingeführte DRG-System komplexe Multimorbidität kostenmäßig nur ungenügend und fördert damit einen Trend zur Vereinzelung und Dissoziation der Behandlungen und Kompetenzen.

Verschiedene Fachgesellschaften und regulatorische Institutionen haben deshalb eine Stärkung der koordinierenden, umfassenden und nachhaltigen Betreuung gefordert. Zum Beispiel verlangt „Advanced Medical Home“ des American College of Physicians und anderer Organisationen unter anderem eine Betreuung nach dem Prinzip “Comprehensive, Coordinated and Continuous Care”.

Auch andere regulatorische oder fachliche Gremien haben analoge Überlegungen in den Vordergrund gerückt, um die weitere und kostspielige Atomisierung der Betreuung von Patienten unter Kontrolle zu bekommen. Die Rolle von Allgemeininternisten ist dabei, einen Teil der Grundversorgung sicher zu stellen, Patienten vom Symptom zur Diagnose zu führen (Differenzialdiagnose) und multimorbide, komplexe Patienten ambulant und im Spital koordinierend zu betreuen. Dazu braucht es insbesondere bei alternden Bevölkerungen, sogenannten „Superaging Societies“, ein Umdenken im Gesundheitssystem. Allgemeininternisten sollen als „Spezialisten“ für Continuity, Comprehensiveness und Coordination ambulant und stationär wirken: Koordinierend, umfassend und nachhaltig!

Quelle:

Statement » Alt, mehrfach erkrankt und zu teuer für unser Gesundheitssystem? Welche Weichenstellungen es für eine gute Versorgung bei Multimorbidität braucht « von Professor Dr. med. Edouard Battegay, Direktor der Klinik und Poliklinik für Innere Medizin am Universitätsspital Zürich  anlässlich der Eröffnungs-Pressekonferenz zum 123. Internistenkongresses der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e. V. (DGIM), 29. April 2017, in Mannheim

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