Freitag, April 19, 2024

Mitbestimmungsrecht für Diabetespatienten

Diabetespatienten sollten in Deutschland ein Mitbestimmungsrecht in den versorgungsrelevanten Entscheidungsgremien erhalten.

Es gibt etwa 6,7 Millionen Diabetespatienten in Deutschland. Täglich kommen 1.000 Neuerkrankte hinzu. Angesichts der kontinuierlich steigenden Zahl der Erkrankten ist es für diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe und die Diabetes-Selbsthilfeorganisationen völlig unverständlich, warum die Bundesregierung noch keinen Nationalen Diabetesplan verabschiedet hat. Dieser würde mit seinen Handlungsfeldern eine bestmögliche Versorgung sichern und einen gesunden Lebensstil fördern. Vor allem aber könnte auch die Selbsthilfe, die bei einer chronischen Krankheit so immens wichtig ist, durch den Ausbau der staatlichen Förderung gestärkt werden. Menschen mit Diabetes sind ihrer Erkrankung 365 Tage im Jahr 24 Stunden ausgesetzt und somit mehr als 99 Prozent der Therapie auf sich allein gestellt. Ein Austausch unter Betroffenen ist unbezahlbar und unabdingbar.

 

Diabetes-Last wiegt schwer

Für die Diabetespatienten und ihre Angehörigen ist die Diagnose ein folgenschwerer Einschnitt: Sie müssen fortan tagtäglich mit der Krankheit leben. Für den Rest ihres Lebens heißt es zum Beispiel für insulinpflichtige Menschen, täglich den Blutzucker zu messen, die Kohlenhydrate der Ernährung zu berechnen und daraus die Insulin-Dosis zu berechnen. Aber auch Diabetespatienten mit einer alleinigen diätetischen Therapie haben eine reduzierte Lebensqualität im Vergleich zu Menschen ohne Diabetes (1). Stoffwechselgesunde Menschen können kaum nachvollziehen, welche Last eine chronische Krankheit wie Diabetes mit sich bringt: Während sich ein gesunder Mensch von einer akuten Krankheit mehr oder weniger schnell erholen kann, wiegt die Diabetes- Last für die chronisch Erkrankten schwer und zunehmend schwerer. Denn neben der täglichen Angst vor Hypoglykämien können sich mit der Zeit Folgekrankheiten wie Erblindung, Nierenversagen, Herzinfarkt, Schlaganfall und Amputationen einstellen. Jeder Zweite fühlt sich in seiner Lebensqualität eingeschränkt, ihm macht die Sorge vor Folgekrankheiten zu schaffen. Genauso viele Menschen fühlen sich ständig „angebunden“ und abhängig von ihrem Insulin oder ihren Tabletten (2).

 

Diabetes auf die politische Agenda

Und doch sieht man den Diabetespatienten auf den ersten Blick die Schwere der Erkrankung nicht an. Wir vermuten, dass dies mit ein Grund ist, weswegen wir immer noch keinen Nationalen Diabetesplan auf den Weg gebracht haben. Doch der Unmut der Betroffenen über nicht erstattete innovative Therapien wächst. Es kann nicht sein, dass wir zehn Jahre gebraucht haben, um das CGM (kontinuierliche Glukose-Messung) in die Erstattung durch die Krankenkassen zu bekommen, um nur ein Beispiel zu nennen. Eine schnellere Erstattung moderner Therapien und Hilfsmittel wäre Patienten und Ärzten eine große Hilfe. Diabetes muss auf die politische Agenda für die neue Legislaturperiode.

 

Das Recht der Diabetespatienten muss Mitbestimmungsrecht heißen

Ein Nationaler Diabetesplan würde nicht nur die Früherkennung systematisieren, Schulungsangebote erweitern und dadurch mehr Lebensqualität für Betroffene und Angehörige ermöglichen, er würde auch eine verhältnispräventiv ausgerichtete Prävention vorantreiben. Darüber hinaus brauchen wir als Herzstück eines Nationalen Diabetesplans ein epidemiologisch-klinisches Diabetes-Register, das langfristig eine bestmögliche Versorgung sichern kann. Und ganz wichtig, Patienten müssen endlich ein Mitbestimmungsrecht in den versorgungsrelevanten Entscheidungsgremien wie dem G- BA, dem Gemeinsamen Bundesausschuss, erhalten. Wenn der Patient in unserem Gesundheitssystem im Mittelpunkt steht, dann muss man ihn auch für mündig genug halten, ihm eine zählende Stimme zu geben. Sonst ist er weiterhin nur Mittel. Punkt.

 

Mit Angehörigen geschätzte 20 Millionen potenzielle Wähler

Auch die Angehörigen müssen sich mit der täglichen Einschränkung durch die Diabetes- Last der Betroffenen auseinandersetzen und sie mittragen. Nach der Dawn2-Studie besteht bei 41 Prozent der Angehörigen ein reduziertes emotionales Wohlbefinden (3). So kommen geschätzte 20 Millionen potenzielle Wähler für die Bundestagswahl 2017 zusammen, die an patientenzentrierten Lösungen interessiert sind und sich für Diabetes als Wahlkampfthema stark machen könnten. Mit der Kampagne „Diabetes STOPPEN. Jetzt handeln!“ sind alle Interessierten aufgefordert, sich über die Website (www.diabetes-stoppen.de) mit wenigen Klicks einen Termin bei ihrem Wahlkreisabgeordneten zu machen oder eine E-Card mit dem eigenen Foto, die die persönliche Diabetes-Last thematisiert, an Bundeskanzlerin Angela Merkel oder den Kanzlerkandidaten Martin Schulz zu senden. Die Kampagne gibt so jedem Betroffenen und den Angehörigen die Möglichkeiten, politisch aktiv zu werden. Sie gibt den Patienten eine Stimme und verschafft Gehör.

 

SHILD-Studie

Auf dem Diabetes Kongress wird es heute, am Freitag, den 26. Mai um 16.30 Uhr in Raum St. Georg zum ersten Mal ein Mini-Symposium geben zum Thema „Selbsthilfe im Praxisalltag“. Hier werden auch die ersten Ergebnisse der SHILD-Studie (4) der Medizinischen Hochschule Hannover über gesundheitsbezogene Selbsthilfe und ihre Wirkung vorgestellt. Menschen mit Diabetes, die sich einer Selbsthilfegruppe (SHG) anschließen, sind eher weiblich (56,9 Prozent), eher älter (Mittelwert 70,9 Jahre), bereits länger erkrankt (Mittelwert 19 Jahre), eher insulinpflichtig (76,3 Prozent) und haben mehr Komorbiditäten. Der Eintritt in die SHG erfolgt erst nach längerer Krankheitsdauer. Die Studie belegt, dass Selbsthilfegruppenmitglieder eine höhere Leitlinienkenntnis haben. Das führt uns zu der Annahme, dass Menschen mit Diabetes, die in der Selbsthilfe engagiert sind, den Praxisalltag der Hausärzte und Diabetologen erleichtern, da so weniger Zeit für die sprechende Medizin anfällt. 91 Prozent der Diabetiker in SHGs wollen von der Erfahrung anderer profitieren, 76 Prozent versprechen sich eine Senkung der Krankheitsbelastung. Gründe, warum sich Menschen mit Diabetes nicht in der Selbsthilfe engagieren, sind zum einen ein Defizit an „geeigneten“, auch wohnortnahen Diabetes-SHGs, zum anderen die (zu) hohe Altersstruktur der bestehenden Gruppen. Es scheint großes Interesse an online-basierten SHGs vorhanden zu sein.
Fazit. Selbsthilfe wird an Bedeutung gewinnen, je mehr Versorgungslücken in einer älter werdenden Bevölkerung entstehen. Die Selbsthilfe wird sich jedoch weiter professionalisieren müssen, um sich mehr Gehör zu verschaffen und den politischen Druck zu erhöhen. Patienten brauchen ein Mitbestimmungsrecht in den relevanten Entscheidungsgremien für eine langfristig gesicherte bestmögliche Versorgung. Der neue Weg der Online-Selbsthilfe sollte konsequent verfolgt werden. Erste Schritte sind hier mit der Deutschen Diabetes Online Community (#dedoc) schon gemacht.

Quellen:

Statement »Den Patienten eine Stimme geben« von Dr. med. Jens Kröger, Vorstandsvorsitzender diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe und ärztlicher Leiter des ambulanten Zentrums für Diabetologie Hamburg Bergedorf


Nicolucci A et al. Diabet Med 2013;30(7):767-777. GfK Marktforschung für den Diabetes Ratgeber, Quelle: dpa vom 10.10.2016.
Kovacs Burns K et al. Diabet Med 2013;30:778-788.
Kramer Silke, MPH, Medizinische Hochschule Hannover, Mai 2017,
https://www.uke.de/extern/shild/

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