Freitag, April 19, 2024

Antidepressiva gegen chronische Schmerzen als Co-Analgetika

Antidepressiva gegen chronische Schmerzen als Co-Analgetika ermöglicht Betroffenen, weniger Schmerzmittel einsetzen zu müssen, mit weniger Nebenwirkungen.

Der WHO-Stufenplan zur medikamentösen Schmerztherapie empfiehlt den Einsatz von Antidepressiva (AD) als sogenannte Adjuvantien (die Schmerztherapie unterstützende Hilfsstoffe) beziehungsweise Co-Analgetika. Die analgetische Wirkung der Antidepressiva gegen vor allem chronische Schmerzen wird heute als weitgehend unabhängig von der antidepressiven Wirkung dieser Medikamente angesehen.

 

Antidepressiva gegen chronische Schmerzen zur Linderung schmerzassoziierter Beschwerden

Neben dem direkt analgetischen Effekt besteht der Vorteil einer Gabe von Antidepressiva als Co-Analgetika darin, schmerzassoziierte Beschwerden wie Schlafstörungen, innere Unruhe, Antriebslosigkeit oder Verstimmungszustände zu lindern und (zum Teil) die Wirkung der Analgetika zu potenzieren.

Folgende neurobiologisch untermauerten analgetischen Wirkmechanismen der Antidepressiva gegen Schmerzen finden sich in der Literatur:

  • Wirkungsverstärkung deszendierender schmerzhemmender Bahnen (Locus coeruleus, Nucleus raphe medianus) durch Wiederaufnahmehemmung von Serotonin und Noradrenalin
  • Antagonisierung vermehrt exprimierter nozizeptiver NMDA-Rezeptoren (Antagonisierung der neuronalen Sensibilisierung)
  • Indirekte Aktivierung der opioid-induzierten Antinozizeption
  • Membranstabilisierung durch Natriumkanalblockade
  • Erhöhung der affektiven Schmerztoleranz (Schmerzdistanzierung) im vorderen Teil des Gyrus cinguli



 

Antidepressiva als Co-Analgetika in der Schmerztherapie gegen chronische Schmerzen

Unter dem Strich belegen zahlreiche klinische Studien eine zuverlässige Effektivität von Antidepressiva in der Schmerztherapie gegen chronische Schmerzen. Aus den veröffentlichten Meta-Analysen und Übersichtsarbeiten geht hervor, dass Antidepressiva bei rund 50–90% aller Schmerzpatienten zu einer Schmerzreduktion um mindestens 50% führen. Während sich eine vergleichbare Analgesie unter Placebo-Gabe im Durchschnitt bei ca. 30% der Behandelten findet. Bei den unterschiedlichsten Schmerz­syndromen finden sich vergleichbare Effektstärken für Antidepressiva und Opioide.

Antidepressiva gegen Schmerzen als Ko-Analgetika bieten weiters die Möglichkeit, klassische Schmerzmittel einzusparen und damit unangenehme Nebenwirkungen zu minimieren bzw. die Wirkung der Analgetika zu steigern. Überblickt man die bisherigen Effektivitätsstudien, so zeigen dual (serotonerg-noradrenerg) wirksame Antidepressiva eine bessere analgetische Wirkung als selektive (serotonerge oder noradrenerge) Antidepressiva gegen Schmerzen.

Eine Erklärung dafür ist die gleichzeitige modulierende Wirkung auf beide Transmittersysteme im Bereich des deszendierenden schmerzhemmenden Systems im Rückenmark, das auf segmentaler Ebene die Weiterleitung des nozizeptiven Inputs dämpfen kann.

 

Duale Antidepressiva zeigen ebenfalls Wirksamkeit

Die Effektivität dualer Antidepressiva gegen Schmerzen ließ sich sowohl tierexperimentell als auch in klinischen Studien an Patienten mit unterschiedlichen Schmerzsyndromen nachweisen. Beurteilt man die derzeitige Studienlage streng nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin, so weisen die klassischen Trizyklika – nicht zuletzt aufgrund der langjährigen und reichhaltigen Daten – die beste Studienevidenz auf, sodass sie in der Indikation »Chronischer Schmerz« weiterhin als Substanzen 1. Wahl gelten.

In den letzten Jahren konnten Forscher vergleichbare Studienergebnisse auch für die neueren dual wirksamen Antidepressiva gegen Schmerzen erzielen. Bei der Dosierung von Antidepressiva gegen Schmerzen orientiert man sich an den Dosisempfehlung für eine ambulante Depressionsbehandlung, teilweise liegen die mittleren Dosierungen in den Studien eher in einem höheren Bereich.

Die früher vertretene Auffassung, dass Antidepressiva gegen Schmerzen in niedrigerer Dosierung analgetisch wirksam seien und in höherer Dosierung antidepressiv, gilt folglich heute als überholt. Allerdings existieren noch keine systemischen Dosisfindungsstudien für die neueren Antidepressiva in der Behandlung chronischer Schmerzen.

 

Wie der Arzt den Patienten informieren sollte

Viele chronische Schmerzpatienten lehnen die Einnahme von Antidepressiva als Co-Analgetika zunächst ab. Denn oft haben sie eine falsche Einstellung und auch fehlende Kenntnis der psychophysiologischen Zusam­menhänge zu chronischen Schmerzen. Deswegen muss der Arzt eine ausführliche Patientenberatung und Informationsvermittlung durchführen, bevor er seinen Patienten Antidepressiva gegen Schmerzen verschreibt.

Denn nur so kann er falsche Erwartungshaltungen korrigieren – wie beispielsweise Suchtgefahr oder Persönlichkeitsänderung durch Antidepressiva. Infolge zeigen die Patienten dadurch auch eine bessere Compliance.



 

Dosierungen

Im Grunde genommen empfehlen Experten einen Therapiebeginn mit einer niedrigen Tagesdosis sowie eine langsame Steigerung. Letztere geschieht bis zu einer durchschnittlichen ambulanten Dosierung innerhalb von 1 bis 3 Wochen. Allerdings zeigen diverse Studien widersprüchliche Ergebnisse zur Wirklatenz in der Schmerztherapie.

Deswegen sollte auch  eine Effektivitätsbeurteilung der Antidepressiva nach einer Behandlungsdauer von 4 bis 6 Wochen in ausreichender Dosierung erfolgen. Bei unzureichender Wirkung steigert man die Dosis. Wenn auch das wiederum nicht wirkt, so sollte man ein Alternativpräparat versuchen.

Die Entscheidung über Fortführung oder Absetzen der Antidepressiva bleibt folglich ein gemeinsames Abwägung zwischen Arzt und Patient. Dabei stellen sie die Vorteile wie beispielsweise schmerzlindernde Effekte den möglichen Nachteilen wie Nebenwirkungen, Kontraindikationen sowie Compliance-Problemen gegenüber.

Wenn allerdings die Behandlung positive  anspricht, dann sollten die Patienten diese weiterhin über mindestens sechs Monate fortsetzen. Schließlich sind auch mehrjährige Therapien grundsätzlich möglich, da kein Suchtrisiko besteht. Allerdings sollte der Arzt in diesem Fall 1 bis 2x jährlich Routinelaborkontrollen durchführen lassen.

Vorsicht ist übrigens für Schmerzpatienten geboten, die auch Cannabis gegen ihre chronischen Schmerzen einsetzen.




Literatur:

Legakis LP, Karim-Nejad L, Negus SS. Effects of repeated treatment with monoamine-transporter-inhibitor antidepressants on pain-related depression of intracranial self-stimulation in rats. Psychopharmacology (Berl). 2020;237(7):2201-2212. doi:10.1007/s00213-020-05530-y

Urits I, Gress K, Charipova K, et al. Cannabis Use and its Association with Psychological Disorders. Psychopharmacol Bull. 2020;50(2):56-67.

Urits I, Peck J, Orhurhu MS, et al. Off-label Antidepressant Use for Treatment and Management of Chronic Pain: Evolving Understanding and Comprehensive Review. Curr Pain Headache Rep. 2019;23(9):66. Published 2019 Jul 29. doi:10.1007/s11916-019-0803-z

Finnerup NB. Nonnarcotic Methods of Pain Management. N Engl J Med. 2019;380(25):2440‐2448. doi:10.1056/NEJMra1807061

Michael Bach. Stellenwert der Antidepressiva in der Schmerztherapie. Psychosomatik in der Gastroenterologie und Hepatologie pp 95-100.


Quellen:

MEDMIX 3/2008. Duale Antidepressiva in der Schmerztherapie. Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Bach

http://americanpainsociety.org/education/guidelines/overview

 

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